Aktivitäten der EU zum Beschaffungswesen und zum Vergaberecht erscheinen aus Sicht der Vergabepraxis oftmals Lichtjahre entfernt. Trotzdem lohnt mitunter der Blick auf die Agenda der Brüsseler Institutionen, da sie ein interessanter Seismograph für zukünftige Entwicklungen und die Themen von morgen sind. Nachfolgend stellen wir einige aktuelle Projekte vor, die auch Relevanz für die Beschaffungspraxis haben (werden).
Zum Ende des Jahres 2021 plant die EU eine Verordnung zu verabschieden, mit der ein neues Instrument für das internationale Beschaffungswesen etabliert wird. Anliegen dieser Verordnung ist es, öffentliche Beschaffungsmärkte außerhalb der EU für europäische Unternehmen zu öffnen. Zudem sollen Wettbewerbsbedingungen sowohl in der EU als auch auf den Märkten von Drittländern angeglichen werden. Zum Erreichen dieser Ziele prüft die EU-Kommission laut Entwurfstext zunächst Marktabschottungen und diskriminierende Verhaltensweisen von Drittländern. Werden Wettbewerbshindernisse festgestellt, kann die Kommission Konsultationen mit den Drittländern durchführen. Sollten die Konsultationen erfolglos verlaufen, kann die Kommission Sanktionen gegen einzelne Angebote von Unternehmen aus den Drittländern verhängen, z. B. in Form von Preisaufschlägen oder Ausschluss von Bietern. Unter Umständen kann die EU sogar Bereiche ihres eigenen Beschaffungsmarktes gegenüber Angeboten aus betroffenen Drittländern schließen. An gegenwärtigen Verpflichtungen der EU gegenüber Drittländern – wie z. B. das WTO Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (Agreement on Government Procurement, GPA) ebenso wie bilaterale Handelsabkommen – wird die Verordnung nichts ändern.
Das Vergaberecht enthält bislang nur im Sektorenbereich die Möglichkeit, Angebote mit Erzeugnissen aus Drittstaaten unter bestimmten Umständen vom Wettbewerb auszuschließen (§ 55 SektVO). Klassische öffentliche Auftraggeber müssen hingegen nach wie vor grundsätzlich auch Angebote aus Drittstaaten berücksichtigen, solange diese die inhaltlichen und formalen Anforderungen der jeweiligen Ausschreibung erfüllen (vgl. dazu OLG Düsseldorf, Beschluss vom 31. Mai 2017 – VIIVerg 36/16 „Heron TP“).
Mit dem IPI tut sich die EU allerdings schwer. Bereits 2012 legte die EU-Kommission einen ersten Verordnungsentwurf vor, scheiterte jedoch an der Zustimmung des Ministerrats. Nach mehrjährigen Abstimmungen auf europäischer Ebene ist der unter portugiesischer Ratspräsidentschaft entwickelte Kompromissvorschlag nun Gegenstand eines Trilogs, der nach der Sommerpause beginnen soll. Dabei handelt es sich um ein beschleunigtes Gesetzgebungsverfahren zwischen EU-Kommission, dem Ministerrat und dem Parlament, das eine Einigung in erster Lesung bezweckt.
Nach Inkrafttreten der Verordnung können europäische Unternehmen wohl mittelfristig mit einem leichteren Zugang zu Märkten in Drittländern rechnen, öffentlichen Auftraggebern werden zugleich Sanktionsmechanismen an die Hand gegeben. Die bereits heute bestehenden Möglichkeiten und Begrenzungen für die Teilnahme von Unternehmen und Waren aus Drittländern am EU-Beschaffungsmarkt zeigt eine Mitteilung der EU-Kommission vom 13. August 2019 (abrufbar hier).
Seit Mai 2021 steht die von der Kommission herausgegebene zweite Auflage des Leitfadens zur sozialorientierten Beschaffung zur Verfügung. Während der Text keine bindende Wirkung entfaltet, bietet er öffentlichen Auftraggebern wichtige Anregungen zur Einbeziehung sozialer Aspekte in den Beschaffungsvorgang. So werden zum Beispiel im Kapitel 4 des Leitfadens die Schritte eines Vergabeverfahrens in Bezug auf sozialorientierte Beschaffung gründlich erläutert – von der Definition des Auftragsgegenstands, über technische Spezifikationen, Auswahlkriterien, Ausschlussgründe und Zuschlagskriterien bis hin zur Angebotswertung. Dabei wird schrittweise dargestellt, wie soziale Kriterien mit dem vergaberechtlichen Aspekt in Einklang gebracht werden können. Im Rahmen der Definition des Auftragsgegenstands wird bspw. vorgeschlagen, Konsultationen zur Feststellung des Nutzungsbedarfs in Bezug auf die Barrierefreiheit durchzuführen; im Rahmen der Festlegung von Zuschlagskriterien wird angeregt, bestimmte Gütezeichen zu fordern, die eine ethisch vertretbare Produktion zertifizieren.
Im gesamten Leitfaden sind zahlreiche Exkurse zur Rechtslage in den Mitgliedstaaten zu finden, z. B. französische und niederländische Rechtsvorschriften zur Bekämpfung von Kinderarbeit in Lieferketten (S. 82). Ebenso erläutert der Leitfaden Begriffe im Zusammenhang mit sozialen Aspekten, wie „Menschen mit Behinderungen“ und „benachteiligte Personen“ nach der VN-Behindertenrechtskonvention (S. 71). Öffentlichen Auftraggebern bietet der Leitfaden eine informative und leicht zugängliche Handreichung. Trotz seines beachtlichen Umfangs eignet er sich für die Verwendung in der Praxis dank seiner übersichtlichen Gestaltung gut. Der Leitfaden ist in deutscher Sprache hier verfügbar.
Seit April 2021 können sich öffentliche Auftraggeber zur Vermeidung von und zum Umgang mit Interessenkonflikten an den neuen Leitlinien der Kommission (2021/C 121/01, abrufbar hier) orientieren. Ziel dieser Leitlinien ist es, die an der Mittelverwaltung mitwirkenden Personen für mögliche Interessenkonflikte zu den Vergaberichtlinien. Für öffentliche Auftraggeber sind insbesondere die Ausführungen zu den Vorschriften über Interessenkonflikte nach den Vergaberichtlinien (Ziffer 5.2 der Leitlinien) bedeutsam. Nach Art. 24 der Richtlinie 2014/24/EU werden Mitgliedstaaten verpflichtet sicherzustellen, dass die öffentlichen Auftraggeber geeignete Maßnahmen zur wirksamen Verhinderung, Aufdeckung und Behebung von Interessenkonflikten treffen. Rechtsfolge eines erkannten Interessenkonflikts ist zunächst, die betroffene Person, in der der Interessenkonflikt besteht, von der Mitwirkung am Vergabeverfahren auszuschließen. Kann der Interessenkonflikt nicht anderweitig behoben werden, ist der betroffene Bieter auszuschließen, Art. 57 Abs. 4 lit. e der Richtlinie 2014/24/EU. Bei einem Verstoß gegen die Richtlinie können Finanzkorrekturen gemäß den Leitlinien der Kommission für Finanzkorrekturen (KOM Beschluss C(2019) 3452) oder andere Rechtsbehelfe greifen. Eine Finanzkorrektur ist anzuwenden, wenn der Interessenkonflikt nicht offengelegt und/oder nicht angemessen abgemildert wurde und zudem den Gewinner betraf. Die Leitlinien sind primär für öffentliche Auftraggeber relevant, die an der geteilten Mittelverwaltung beteiligt sind und oberschwellige Aufträge für die Ausführung eines aus dem EU-Haushalt finanzierten Projekts vergeben
Mit dem Dokument „Instrumente zur Bekämpfung geheimer Absprachen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und über Leitlinien für die Anwendung des entsprechenden Ausschlussgrunds“ (2021/C 91/01; abrufbar hier) wendet sich die EU-Kommission direkt an öffentliche Auftraggeber. Mithilfe der Instrumente und der Leitlinien will sie diese bei der Bekämpfung von Absprachen im Rahmen eines Vergabeverfahrens unterstützen und die Zusammenarbeit zwischen nationalen Vergabe und Wettbewerbsbehörden fördern. Zur Unterstützung der Mitgliedstaaten und öffentlichen Auftraggeber sollen mehr Ressourcen bereitgestellt und administrative Anreize zur Belohnung von Bediensteten, die Absprachen aufdecken, gesetzt werden. Ferner sollen Schulungen sowie Sensibilisierungsmaßnahmen organisiert werden. Im Rahmen von Verbesserungsvorschlägen zur Zusammenarbeit zwischen nationalen Vergabe und Wettbewerbsbehörden wird Deutschland als Vorbild genannt, da das Bundeskartellamt eine Aufsichtsfunktion bei der Durchsetzung des Vergaberechts übernimmt.
Ferner erläutert die Kommission ihre – nicht rechtsverbindliche – Ansicht über die Anwendung des Ausschlussgrunds wegen wettbewerbsverzerrender Absprachen, Art. 57 Abs. 4 lit. d der Richtlinie 2014/24/EU, der in § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB in deutsches Recht umgesetzt wurde. Ein Blick in den Anhang der Leitlinie kann sich besonders für eher unerfahrene öffentliche Auftraggeber lohnen. Er enthält „Mittel und Tipps“, wie beim Ausschluss von Bietern wegen geheimer Absprachen zu verfahren ist. Empfohlen wird bspw. eine gründliche Marktrecherche im Vorfeld des Vergabeverfahren, damit sich öffentliche Auftraggeber einen Überblick über die realen Marktkosten verschaffen können.