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    12.03.2020

    Möglichkeiten zur beschleunigten Beschaffung in Zeiten der „Corona-Krise“


    Hessen schreibt Blitzbeschaffung für Schutzanzüge aus – dies war eine der vielen Schlagzeilen, die man in den letzten Tagen im Zuge der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Erregers in Deutschland lesen konnte. Gerade in Krisenzeiten wird das Vergaberecht als potenzieller Hemmschuh für schnelle Beschaffungen angesehen. Umso wichtiger, dass öffentliche Auftraggeber die im Vergaberecht bestehenden Möglichkeiten für die Durchführung von beschleunigten Vergabeverfahren kennen und konsequent nutzen:

     

    1. Verkürzung der Regelfristen

     

    Bei der EU-weiten Vergabe von Liefer- und Dienstleistungen besteht die Möglichkeit, die für die jeweilige Verfahrensart vorgesehenen Regelfristen im Fall einer hinreichend begründeten Dringlichkeit zu verkürzen (z. B. § 15 Abs. 3 VgV, § 16 Abs. 3, Abs. 7 VgV). Bei der regelmäßig schnellsten Vergabeart – dem offenen Verfahren – ist eine Verkürzung auf 15 Tage ab Absendung der Auftragsbekanntmachung zulässig. Für die Verkürzung der regelmäßigen Mindestfrist bedarf es objektiver Gründe, die zwar das Vergabeverfahren nicht völlig ausschließen, es dem Auftraggeber aber unmöglich machen, die Regelfrist von 30 Tagen im offenen Verfahren bei elektronischer Angebotsabgabe einzuhalten. Bei einem akuten Beschaffungsengpass, der zu einer Gefährdung der Versorgung medizinischer Einrichtungen mit notwendiger Ausrüstung führen würde, sind diese Voraussetzungen gegeben.

     

    Ob die Verkürzung der Regelfrist nicht auf Versäumnisse des öffentlichen Auftraggebers zurückgeführt werden darf – Rechtsgedanke des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV – ist umstritten. Die Frage kann jedoch offen bleiben, wenn der Eilbedarf jedenfalls auf der unerwartet gesteigerten Nachfrage von Schutzausrüstung beruht und nicht auf grundlegenden strukturellen Mängeln beim öffentlichen Auftraggeber.

     

    2. Durchführung eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb

     

    Noch schneller geht es, wenn der öffentliche Auftraggeber direkt mit lieferfähigen Unternehmen verhandeln kann. Das Mittel der Wahl ist dabei im Bereich oberhalb der EU-Schwellenwerte das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb – eine Verfahrensart, die keine vorherige EU-weite Bekanntmachung der Beschaffungsabsicht vorsieht – und im Unterschwellenbereich die Verhandlungsvergabe ohne Teilnahmewettbewerb. Da in diesem Verfahren der Wettbewerb wesentlich eingeschränkt wird, ist das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb gemäß § 14 Abs. 4 VgV bzw. die Verhandlungsvergabe ohne Teilnahmewettbewerb gemäß § 12 UVgO nur beim Vorliegen der Voraussetzungen eng auszulegender Ausnahmetatbestände zulässig.

     

    Bei der Beschaffung von Schutzkleidung kommt insbesondere § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV (bzw. § 8 Abs. 4 Nr. 9 UVgO) in Betracht. Hiernach müssen äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen vorliegen, die der öffentliche Auftraggeber nicht vorhersehen konnte und die es nicht zulassen, die Mindestfristen für die Durchführung eines Vergabeverfahrens einzuhalten. Im Vergleich zur Abweichung von den Regelfristen (Siehe 1.), sind die Voraussetzungen noch deutlich strenger und werden von der Rechtsprechung sehr restriktiv ausgelegt. Der öffentliche Auftraggeber muss die bedrohten Rechtsgüter einerseits und die vergaberechtliche Pflicht zur Durchführung eines wettbewerblichen und transparenten Vergabeverfahrens (§ 97 Abs. 1 und 2 GWB) gegeneinander abwägen und diesen Abwägungsprozess dokumentieren. Dieses Pendel schlägt insbesondere dann zugunsten der bedrohten Rechtsgüter aus, wenn besonders hochrangige Rechtsgüter (Leben, körperliche Unversehrtheit etc.) betroffen sind und deren Beeinträchtigung unmittelbar bevorsteht bzw. schon eingetreten ist. Bei der Versorgung mit Schutzausrüstung sind besonders hochrangige Rechtsgüter betroffen, die auch unmittelbar beeinträchtigt sind. Insbesondere dient die Versorgung mit Schutzausrüstung nicht nur dem eigenen Schutz, sondern auch dem Ziel, die unkontrollierte Ausbreitung von SARS-CoV-2 zu hemmen.

     

    Weiterhin muss die Notlage unvorhersehbar gewesen sein. Unvorhersehbar sind solche Ereignisse, die außerhalb des üblichen wirtschaftlichen und sozialen Lebens stehen. Zwar gab es auch in der Vergangenheit bereits Pandemien, von einer Üblichkeit oder Vorhersehbarkeit eines konkreten Ausbruches kann aber nicht ausgegangen werden.

     

    Schließlich darf der Engpass nicht auf Versäumnissen des öffentlichen Auftraggebers beruhen. Bestehen hier Zweifel, ob der Engpass nicht (auch) auf strukturellen Versäumnissen des Auftraggebers zurückzuführen ist, könnte als Alternative zumindest über eine Interimsvergabe (siehe nachfolgend 3.) nachgedacht werden.

     

    3. Interimsvergaben als Mittel der temporären Deckung eines Beschaffungsbedarfs

     

    Bei Interimsaufträgen handelt es sich um Aufträge, die direkt vergeben werden und zeitlich bis zum frühest möglichen Abschluss des vergaberechtlich vorgeschriebenen EU-weiten Vergabeverfahrens befristet sind. Sie dienen damit einer zeitlich begrenzten Überbrückung eines Engpasses, während zeitgleich ein reguläres Vergabeverfahren durchgeführt wird. Die Interimsvergabe ist somit kein Instrument der dauerhaften Bedarfsdeckung.

     

    Interimsvergaben sind im Vergaberecht nicht ausdrücklich geregelt, aber von der Rechtsprechung für bestimmte Notsituationen anerkannt (z. B. KG, Beschl. v. 29.02.2012 – Verg 8/11). Im Fall von Beschaffungen der Daseinsvorsorge sind Interimsvergaben nach der Rechtsprechung sogar dann zulässig, wenn der Engpass auf einem Verschulden des öffentlichen Auftraggebers zurückzuführen ist. Zeitlich ist die Interimsvergabe auf den notwendigen Zeitraum zu beschränken, der für die Durchführung eines regulären Vergabeverfahrens erforderlich ist.

     

    4. Rahmenvereinbarungen ausschöpfen und überschreiten

     

    Wenn der öffentliche Auftraggeber über eine bestehende Rahmenvereinbarung mit einem Dienstleister über Schutzkleidung oder andere dringend benötigte Artikel verfügt, ist diese das schnellste und flexibelste Instrument für entsprechende Einzelaufträge. Bei Rahmenvereinbarungen muss das Beschaffungsvolumen nicht vorab abschließend festgelegt werden. Allerdings nimmt die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) eine Verpflichtung an, zumindest eine Obergrenze bei der Menge zu definieren (Urt. v. 19.12.2018 – C-216/17 – allerdings zu den alten Vergaberichtlinien).

     

    Selbst wenn die in der Rahmenvereinbarung festgelegte Obergrenze überschritten wird, führt dies aber noch nicht zwingend zu einem neuen Vergabeverfahren. Denn auch auf Rahmenvereinbarungen ist die Vorschrift des § 132 GWB zu nachträglichen Auftragsänderungen anwendbar. Wenn der Wert der nachträglichen Beauftragung den Schwellenwert von EUR 214.000 für Dienstleistungsaufträge nicht überschreitet und zugleich ein Volumen von 10 Prozent des ursprünglich beauftragten Wertes nicht überschritten wird, ist die Zusatzbeauftragung bereits auf der Grundlage von § 132 Abs. 3 Satz 1 GWB zulässig.

     

    Wertmäßig höhere Nachbestellungen wiederum dürften in Krisenzeiten auch von § 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB abgedeckt sein. Hiernach darf der öffentliche Auftraggeber Änderungen vornehmen, die er im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht nicht vorhersehen konnte. Dies dürfte bei der Corona-Krise der Fall sein. Wenn sich der Gesamtcharakter des Auftrags hierdurch nicht ändert und die Nachbestellung einen Wert von 50 Prozent des ursprünglichen Auftrags nicht überschreitet (§ 132 Abs. 2 Satz 2 GWB), ist diese Auftragsänderung ohne ein neues Vergabeverfahren zulässig. Eine solche Auftragsänderung ist gemäß § 132 Abs. 5 GWB aus Transparenzgründen im Amtsblatt der EU bekannt zu machen.

     

    +++ Update am 23. März 2020 +++

     

    Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) hat am 19. März 2020 das Rundschreiben zur Anwendung des Vergaberechts im Zusammenhang mit der Beschaffung von Leistungen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 an Bund, Länder und Kommunale Spitzenverbände versandt. Das Rundschreiben erklärt die Voraussetzungen für ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb für gegeben, wenn dies der Eindämmung und kurzfristigen Bewältigung der Corona-Pandemie und/oder der Aufrechterhaltung des Dienstbetriebs der öffentlichen Verwaltung dient. Das Rundschreiben ist unter folgendem LINK verfügbar.

     

    Fragen zu diesem Thema beantwortet Ihnen Sascha Opheys gerne.

     

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