EuGH-Urteile vom 01.12.2022 (Rs. C-141/20 und C-269/20) und BFH-Beschluss vom 26.01.2023 (Az. V R 20/22; Verfahren beim EuGH: Rs. C-184/23)
Wird eine Umsatzsteuerorganschaft gelebt, gilt es wachsam zu bleiben und die aktuellen Entwicklungen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Bundesfinanzhofs (BFH) zu verfolgen. Geklärt ist zwar mittlerweile, dass die nationale Regelung, wonach der Organträger die umsatzsteuerlichen Verpflichtungen für den Organkreis zu erfüllen hat, europarechtskonform ist. Auch sind sich EuGH und BFH einig, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen der finanziellen Eingliederung weniger streng sind als der BFH dies bisher forderte. Noch ungeklärt ist aber, welche Folgen die alles erschütternde Aussage des EuGH hat, dass eine Person trotz ihrer Zugehörigkeit zu einem Organkreis weiterhin selbstständig sein kann. Sind damit die bisher als nicht umsatzsteuerbar behandelten Umsätze zwischen den zum Organkreis gehörenden Personen als umsatzsteuerpflichtig anzusehen?
"Alles beim Alten" heißt es zunächst im Hinblick auf den Umstand, dass gemäß der nationalen Regelung des § 2 Abs. 2 Nr. 2 Umsatzsteuergesetz allein der Organträger als Steuerpflichtiger anzusehen ist. Trotz der von der nationalen Regelung abweichenden Vorstellung des europäischen Rechts, wonach alle Mitglieder zu einer Mehrwertsteuergruppe verschmelzen und diese als Steuerpflichtige anzusehen ist, hat der EuGH der nationalen Regelung keine Absage erteilt. Denn auch die deutsche Regelung führe nach Ansicht des EuGH nicht zu einer Gefahr von Steuerverlusten, weil neben der vorrangigen Haftung des Organträgers eine weitere (subsidiäre) Haftung aller Organmitglieder über die Anordnung einer Gesamtschuldnerschaft in § 73 der Abgabenordnung gewährleistet sei.
Noch nicht final geklärt sind die Rechtsfolgen folgender Aussage des EuGH: Eine Person darf nicht allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer umsatzsteuerlichen Organschaft automatisch als nicht selbstständig eingeordnet werden. Entscheidend für die Einordnung als selbstständig sei allein, dass eine Tätigkeit im eigenen Namen, auf eigene Rechnung sowie in eigener Verantwortung ausgeübt und das resultierende wirtschaftliche Risiko getragen werde.
Diese Aussage stellt das nationale Verständnis der Umsatzsteuerorganschaft völlig auf den Kopf. Denn die Bildung einer umsatzsteuerlichen Organschaft führt nach nationalem Verständnis zur Eingliederung der Organgesellschaft in das Unternehmen des Organträgers und dem denklogisch und gesetzessystematisch folgend zum Verlust der Selbständigkeit der eingegliederten Organgesellschaft im Sinne der umsatzsteuerlichen Unternehmereigenschaft im Hinblick auf die Steuerpflichtigkeit der Umsätze gegenüber des Organträgers.
Im Anschluss an diese Aussage und der Forderung des EuGH, dass die nationale Gesetzesbestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führen darf, musste es zwingend zu einer weiteren (Vorlage-)Frage des BFH an den EuGH kommen: Kann von nicht der Umsatzteuer unterliegenden Innenumsätzen ausgegangen werden, wenn wie im zu entscheidenden Fall die Gefahr von Steuerverlusten droht, weil der Organträger als Empfänger des Innenumsatzes nicht zum (vollen) Vorsteuerabzug berechtigt ist? Die Antwort des EuGH auf diese Vorlagefrage steht noch aus.
Der angefragte Sachverhalt betrifft eine Vielzahl von Gestaltungen. Wird doch die Umsatzsteuerorganschaft regelmäßig als Gestaltungsinstrument bei Personen eingesetzt, die nicht oder nicht zum vollen Vorsteuerabzug berechtigt sind, wie beispielsweise Körperschaften des öffentlichen Rechts und gemeinnützige Körperschaften insbesondere im Gesundheits- und Sozialwesen sowie im Bildungsbereich, aber auch Banken und Versicherungen sowie Vermieter von Wohnungen. Nichtabziehbare Vorsteuerbeträge ließen sich bislang für derartige Personen dadurch vermeiden, dass sie mit Dienstleistern Organschaften begründeten. Eine Entscheidung pro Steuerbarkeit von Innenumsätzen würde schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Denn die Umsatzsteuerorganschaft ist allein abhängig vom Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen. Fällt eine weg, entfällt die Organschaft. Sie kann durch den Steuerpflichtigen weder gewählt noch abgewählt werden und ist auch nicht von einem Feststellungsakt der Finanzverwaltung abhängig. Nicht zuletzt aus diesem Grund, sind die Divergenzen zwischen dem europäischen und dem deutschen Recht auf dem Gebiet der Umsatzsteuerorganschaft so problematisch. Für nicht festsetzungsverjährte Umsatzsteuerveranlagungen muss dann eine Lösung gefunden werden. Wahrscheinlich ist, dass eine Übergangsregelung dazu führt, dass die Vergangenheit unberührt bleibt. Für die Zukunft aber müssen dann schnellstmöglich alternative Gestaltungen gefunden werden.