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Neue Produkthaftungsrichtlinie – eine alte Dame tritt ab und macht Platz für einen neuen Produktbegriff (einschließlich Software)

Eine Feier anlässlich ihres 40-jährigen Jubiläums wurde ihr nicht vergönnt – der Richtlinie 85/374/EWG über die Haftung für fehlerhafte Produkte ("Produkthaftungsrichtlinie") aus dem Jahre 1985. Kurz bevor es so weit gewesen wäre, haben sich die EU-Politiker nun auf die Eckpunkte der neuen Produkthaftungsrichtlinie geeinigt. Ihren Ursprung hat diese in einem Entwurf, den die Europäische Kommission Ende September 2022 veröffentlicht hat.

Mit diesem Blogbeitrag stellen wir die neuen, teils tiefgreifenden Änderungen der Richtlinie vor, die nach den Vorstellungen der EU-Kommission insbesondere durch die Einbeziehung von Software in den Produktbegriff nunmehr für das digitale Zeitalter gerüstet werden soll - eine der Prioritäten der EU-Kommission im Rahmen ihrer Digitalstrategie.

Neuer Produktbegriff umfasst Software

Die Produkthaftungsrichtlinie ist die Rechtsgrundlage für Schadensersatz aufgrund eines fehlerhaften Produkts, durch welches natürliche Personen einen Schaden erleiden. Dabei steht naturgemäß der Begriff des Produkts im Mittelpunkt. Nachdem jahrelang Uneinigkeit darüber herrschte, ob Software als solche ebenfalls vom Produktbegriff umfasst wird, wurde dieser Diskussion nun ein Ende bereitet. Künftig soll nun explizit auch Software vom Produktbegriff umfasst werden. Hierzu gehören beispielsweise Betriebssysteme, Firmware und Computerprogramme. Dabei soll Software unabhängig davon als Produkt gelten, ob sie auf einem Gerät gespeichert wird oder über Cloud-Technologien abgerufen wird. Ausgenommen ist der Quellcode von Software.

Ausnahme Open Source Software

Vom Anwendungsbereich der Produkthaftungsrichtline ausgenommen ist demgegenüber freie und open source Software, allerdings nur, wenn sie außerhalb einer gewerblichen Tätigkeit entwickelt oder bereitgestellt wird. Sofern derartige Software gegen ein Entgelt bereitgestellt oder sofern personenbezogene Daten verwendet werden, ist die Verwendung als gewerbliche Tätigkeit zu qualifizieren mit der Konsequenz, dass dann die Produkthaftungsrichtlinie Anwendung findet.

Fehlerhaftigkeit eines Produkts

Nach der Richtlinie hat ein Produkt einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die die breite Öffentlichkeit erwarten kann. Insoweit gibt es keine wesentlichen Änderungen zur alten Produkthaftungsrichtlinie. Neu ist dabei allerdings, dass die Gerichte nunmehr im Rahmen der Beurteilung, ob ein Fehler vorliegt, eine Reihe von Faktoren wie die Vernetzung, Selbstlernfunktionen und insbesondere Cybersicherheit von Produkten berücksichtigen sollen.

Recht auf Schadenersatz auch bei Verlust oder Verfälschung von Daten

Jede natürliche Person, die durch ein fehlerhaftes Produkt einen Schaden erleidet, hat einen Anspruch auf Schadensersatz. Schäden können dabei sowohl der Tod als auch Körperverletzungen sein, wobei zu letzterem nun auch medizinisch anerkannte Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit zählen. Ferner normiert die neue Richtline auch die Beeinträchtigung oder Zerstörung von Vermögensgegenständen als Schaden. Darüber hinaus soll zukünftig auch ein Verlust oder die Verfälschung von Daten als Schaden angesehen werden. Abgedeckt werden aus dem Schaden resultierende Verluste sowohl materieller als auch immaterieller Art.

Neue Regelungen zur Beweislast und Zugang zu Beweismitteln

Ein weiteres Kernelement der neuen Produkthaftungsrichtlinie sind neue Beweislastregelungen. Für einen geschädigten Verbraucher ist es oftmals schwierig, die Fehlerhaftigkeit eines Produkts, den Schaden bzw. den ursächlichen Zusammenhang zwischen dessen Fehlerhaftigkeit und dem entstandenen Schaden nachzuweisen, nicht zuletzt wegen der zunehmenden technischen Komplexität vieler Produkte. Die neue Produkthaftungsrichtlinie sieht daher zum Ausgleich dieser Informationsasymmetrie vor, dass eine geschädigte Person, die vor einem nationalen Gericht eine Entschädigung geltend macht, Zugang zu relevanten, in der Verfügungsgewalt des Herstellers befindlichen Beweismitteln beantragen kann, um ihre Ansprüche nachweisen zu können. Dies steht allerdings unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Vorgesehen sind dabei auch Maßnahmen zum Schutz der Vertraulichkeit der offenzulegenden Informationen einschließlich Geschäftsgeheimnissen. Es bleibt abzuwarten, wie diese Regelungen in nationales Recht umgesetzt werden. Diese Pflicht zur Offenlegung stellt jedenfalls ein Novum im Produkthaftungsrecht dar, welches Grundprinzipien des deutschen Zivilprozessrechts auf den Kopf stellt und zu einem erhöhten Haftungsrisiko für die Wirtschaftsakteure führen dürfte.

Ferner wird festgeschrieben, dass Gerichte Beweiserleichterungen dergestalt anordnen können, dass der Geschädigte lediglich die "wahrscheinliche Fehlerhaftigkeit" bzw. dass diese den Schaden "wahrscheinlich verursacht" hat nachweisen muss. Damit soll gewährleistet werden, dass Verbrauchern eine faire Chance haben, in komplexen Fällen Schadensersatz zu erlangen. Auf eine Umkehr der Beweislast konnte man sich demgegenüber nicht verständigen.

Haftung von Plattformbetreibern

Die neue Produkthaftungsrichtlinie nimmt auch die neue digitale Realität in den Blick und bestimmt, dass nunmehr auch Online-Plattformen für fehlerhafte Produkte haftbar gemacht werden können. Voraussetzung ist, dass sie die Rolle eines Herstellers, Einführers oder Händlers wahrnehmen. Online-Plattformen sollen daher insbesondere haften, wenn sie ein Produkt so präsentieren, dass ein Durchschnittsverbraucher zu der Annahme veranlasst würde, dass das Produkt von der Online-Plattform selbst bereitgestellt wird und wenn die Online-Plattformen es versäumen, unverzüglich einen relevanten Wirtschaftsakteur mit Sitz in der EU zu benennen. Sofern sie lediglich eine reine Vermittlerrolle spielen, greift zu ihren Gunsten der bedingte Haftungsausschluss nach dem Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act – DSA).

Haftbarkeit des Fulfilment-Dienstleisters

Verbraucher erwerben zunehmend Produkte von Herstellern mit Sitz außerhalb der EU. Vor diesem Hintergrund soll dem Verbraucherschutz dadurch besser Rechnung getragen werden, dass in diesen Fällen der Einführer des fehlerhaften Produkts, der in der EU ansässige Bevollmächtigte des Herstellers oder als ultima ratio auch der sogenannte „Fulfilment-Dienstleister“ haftbar gemacht werden können. Als „Fulfilment-Dienstleister“ definiert die Produkthaftungsrichtlinie jede natürliche oder juristische Person, die im Rahmen einer Geschäftstätigkeit mindestens zwei der folgenden Dienstleistungen anbietet: Lagerhaltung, Verpackung, Adressierung und Versand eines Produkts.

KI-Systeme

Explizit umfasst werden sollen auch KI-Systeme. Die Produkthaftungsrichtlinie steht neben dem jüngst verabschiedeten AI Act und ergänzt diesen. Während ausweislich der Gesetzesbegründung mit dem AI Act unter anderem sichergestellt werden soll, dass Hochrisiko-KI-Systeme die Sicherheits- und Grundrechtsanforderungen erfüllen (z. B. Daten-Governance, Transparenz, menschliche Aufsicht), soll mit der Produkthaftungsrichtlinie sichergestellt werden, dass bei fehlerhaften KI-Systemen, die physische Schäden, Sachschäden oder Datenverluste verursachen, vom Anbieter des KI-Systems oder von jedem Hersteller, der ein KI-System in ein anderes Produkt integriert, Schadenersatz verlangt werden kann.

Offenbar keine Einigung gab es bislang zum Entwurf der "Richtlinie über außervertragliche zivilrechtliche Haftung künstlicher Intelligenz (Richtlinie über KI-Haftung)", welchen die EU-Kommission im Jahr 2022 zur Diskussion gestellt hat. Dieses Vorhaben dürfte für 2024 wieder auf der Tagesordnung stehen.

Ausblick

Bevor die Produkthaftungsrichtline in Kraft treten kann, ist im nächsten Schritt noch die formelle Zustimmung der EU-Gremien notwendig. Sodann haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, diese in nationales Recht umzusetzen.

Die neue Produkthaftungsrichtlinie statuiert eine verschuldensunabhängige Haftung. Dies ist für Hersteller in vielen Bereichen bereits Usus, für Softwarehersteller einschließlich Anbietern von Cloud-Technologien allerdings juristisches Neuland. Bemerkenswert ist, dass recht geräuschlos der Rotstift angesetzt und der bisherige Selbstbehalt des Geschädigten in Höhe von 500 Euro gestrichen wurde. Mit der im Jahr 2020 durch die EU-Verbandsklagerichtlinie festgeschriebenen und inzwischen im Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetz (VRUG) umgesetzten Möglichkeit der sogenannten Abhilfeklage steht zu vermuten, dass sich Unternehmen unter Umständen auf Sammelklagen von Verbrauchern einstellen müssen, können somit doch nun massenhaft Bagatellschäden gebündelt eingeklagt werden.

Dr. Peggy Müller

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Produkthaftung Produkthaftungsrichtlinie Software

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