Zunehmende Digitalisierung, das Aufkommen neuer Geschäftsmodelle innerhalb der Kreiswirtschaft und globale Lieferketten haben aus Sicht der Europäischen Kommission eine Überarbeitung der bestehenden Produkthaftungsrichtline 85/374/EWG notwendig gemacht. Als Teil eines ambitionierten Regulierungsprogramms der Europäischen Union, die u.a. die allgemeine Produktsicherheitsverordnung, die Revision der Ökodesign-Richtlinie (s. Blogbeitrag vom 14.06.24) und die KI-Haftungsrichtlinie vorsieht, wurde die neue Produkthaftungsrichtlinie am 18. November veröffentlicht, Richtlinie (EU) 2024/2853 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2024 über die Haftung für fehlerhafte Produkte und zur Aufhebung der Richtlinie 85/374/EWG des Rates (Link).
Sie enthält mehrfache persönliche und sachliche Verschärfungen - das Sicherheitsnetz aus zivilrechtlicher Haftung und Produktsicherheit wird für europäische Verbraucher enger, wie der nachfolgende Beitrag beleuchtet.
Bislang war es rechtlich unklar, wie die bereits seit Jahrzehnten geltenden Definitionen der Produkthaftungsrichtlinie (nachfolgend "ProdHaft-RL") auf Produkte der digitalen Wirtschaft und Kreislaufwirtschaft, wie beispielsweise intelligente Geräte oder autonome Fahrzeuge, anzuwenden sind.
Mit der ausdrücklichen Aufnahme von Software und digitalen Konstruktionsunterlagen in den Produktbegriff steht nun außer Zweifel, dass auch solche Produkte, gleich ob materieller oder immaterieller Art, von der Richtlinie erfasst sind. Lediglich sog. "Open-Source-Software", d.h. freie und quelloffene Software, die außerhalb einer gewerblichen Tätigkeit entwickelt wurde, ist vom Anwendungsbereich der ProdHaft-RL ausgenommen.
Auch digitale Dienste, die für die Sicherheit des Produkts genauso grundlegend wie physische oder digitale Komponenten sind, wie etwa die kontinuierliche Bereitstellung von Verkehrsdaten in einem Navigationssystem, unterfallen als "verbundene Dienste" künftig dem Haftungsregime der ProdHaft-RL.
Ebenso wurde der Schadensbegriff angesichts der digitalen Herausforderungen modifiziert. So ist fortan die Zerstörung oder Beschädigung von privaten Daten durch beispielsweise Softwarefehler, Hackerangriffe oder Hardwaredefekte haftungsbegründend. Auch der Verlust oder die Verfälschung von Daten, die nicht ausschließlich für berufliche Zwecke verwendet werden, sind als Schaden im Sinne der ProdHaft-RL zu qualifizieren.
Offen bleibt jedoch, wie die Schadensberechnung im Falle eines Verlustes oder einer Zerstörung von Daten vorzunehmen ist. Welche Anhaltspunkte für die Schätzung des Wertinteresses für den Schadensfall heranzuziehen sind, wird dem nationalen Gesetzgeber bzw. der Rechtsprechung überlassen.
Um sicherzustellen, dass immer ein Unternehmen mit Sitz in der EU verfügbar ist, das für fehlerhafte Produkte haftbar gemacht werden kann, wurde der Haftungsadressatenkreis großzügig erweitert.
In dem Fall, dass der Hersteller keinen Sitz in der EU hat, sind neben ihm der Einführer und nunmehr auch Bevollmächtigte des Herstellers oder Fulfillment-Dienstleister haftbar zu machen. Dies ist insoweit beachtlich, als dass für diese Wirtschaftsakteure keine spezielle Haftungsbefreiung vorgesehen ist, obgleich lediglich eine fremde Vertriebstätigkeit unterstützt wird.
Unter bestimmten Voraussetzungen kann der Geschädigte neuerdings auch auf Online-Plattform-Betreiber, wie bislang auf jeden Händler, zurückgreifen.
Grundsätzlich bleibt der maßgebliche Zeitpunkt für die Feststellung eines Produktfehlers das Inverkehrbringen oder die Inbetriebnahme des Produkts. Im Zusammenhang mit digitalen Produkten kann es jedoch nun zu einer erheblichen zeitlichen Verschiebung des Beurteilungszeitpunktes kommen. Behält der Hersteller nach Inverkehrbringen oder Inbetriebnahme die Kontrolle über das Produkt, z.B. in Form von Software-Updates oder -Upgrades, so verschiebt sich der Zeitpunkt auf jenen, ab dem das Produkt nicht mehr unter der Kontrolle des Herstellers steht, er demnach keine Einwirkungsmöglichkeit mehr innehat.
Die wohl einschneidendste Änderung erfährt die Richtlinie im Rahmen der Beweisfragen. So wurde zum einen die Beweislastverteilung neu geregelt, zum anderen die Verpflichtung zur Offenlegung von Beweismitteln postuliert. Damit soll die Beweislast in komplexen Fällen, die etwa auf technischen Besonderheiten von KI-Systemen beruhen können, gemindert und die Einschränkungen bei der Geltendmachung von Ansprüchen verringert werden. Im Ergebnis führt dies zu einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Geschädigten.
Die geschädigte Person trägt zwar grundsätzlich weiterhin die Beweislast für die Fehlerhaftigkeit des Produkts. Hinsichtlich der erlittenen Schäden und deren ursächlichen Zusammenhangs profitiert sie jedoch von widerlegbaren Tatsachenvermutungen bezüglich der Fehlerhaftigkeit und des Kausalzusammenhangs. Diese werden in der Praxis zur Beweislastumkehr führen.
Insbesondere kann von der Fehlerhaftigkeit eines Produkts ausgegangen werden, wenn die beklagte Person ihrer Verpflichtung zur Offenlegung von relevanten Beweismitteln nicht nachgekommen ist. Um der Informationsasymmetrie bei technisch und wirtschaftlich komplexen Fällen entgegenzuwirken, werden die nationalen Gerichte verpflichtet, auf Antrag einer geschädigten Person anzuordnen, dass die Wirtschaftsakteure die in ihrer Verfügungsgewalt befindlichen „relevanten“ Beweismittel offenlegen müssen. Hierfür sollen die Geschädigten Tatsachen und Belege vorlegen, die die "Plausibilität" des klägerischen Anspruchs ausreichend stützen.
Obwohl dieses neue Instrument dem deutschen Zivilrecht rund um den Beibringungsgrundsatz weitgehend fremd ist, obliegt die Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe "Plausibilität" und "relevant" ebenso wie die Reichweite der Offenlegung und damit verbunden der angemessene Schutz von Geschäftsgeheimnissen den nationalen Gesetzgebern bzw. den nationalen Gerichten.
Die neue Produkthaftungsrichtlinie führt zu einer spürbaren Erweiterung der europäischen Produkthaftung. Den EU-Mitgliedstaaten bleibt bis zum 9. Dezember 2026 Zeit, um die Richtlinienvorgaben in nationales Recht umzusetzen. Neben den traditionellen Herstellern sollten sich auch Wirtschaftsakteure des Onlinehandels und globaler Lieferketten, wie Bevollmächtigte, Fulfillment-Dienstleister und Online-Plattform-Betreiber, frühzeitig und fortlaufend mit den neuen Spielregeln vertraut machen. Besonders wegen der ersatzlos entfallenen Bagatellgrenze (bis zu 500 Euro) können Wirtschaftsakteure künftig im Rahmen von Verbandsklagen mit einer Vielzahl von Bagatellklagen konfrontiert sein, die in Summe erhebliche Auswirkungen haben können.