Das Oberste Gericht der RF hat das Recht von durch Sanktionen betroffenen russischen Unternehmen bestätigt, selbst dann ein Gerichtsverfahren vor einem russischen staatlichen Gericht zu führen, wenn eine Schiedsklausel zu Gunsten einer ausländischen Schiedsinstitution vorliegt.
Im Jahr 2013 schlossen ein russisches Unternehmen („Käufer“) und ein polnisches Unternehmen („Lieferant“) einen Vertrag über die Lieferung von Waggons. Der Käufer hat den Status eines strategischen Unternehmens, trat beim Abschluss des Vertrages aber als unabhängige, gewinnorientert tätige juristische Person auf, die bei Vertragsabschluss weder Funktionen eines staatlichen Organs ausübte, noch Interessen der RF vertrat. Es handelte sich um einen kommerziellen Liefervertrag zwischen zwei Unternehmen, der weder öffentliche Interessen, noch Interessen der Russischen Föderation berührte.
Die Parteien vereinbarten, sämtliche Streitigkeiten vor dem Schiedsgericht der Handelskammer Stockholm (SCC) beizulegen.
Gegen den Käufer wurden 2014 Sanktionen von EU, USA, Schweiz, Ukraine und Liechtenstein verhängt.
Im September 2018 leitete der Lieferant beim SCC ein Schiedsverfahren ein und verklagte den Käufer auf ausstehende Zahlungen und Strafen
in Höhe von mehr als 55 Mio. Euro. Die Schiedsgebühr für den Käufer bezahlte aufgrund dessen schlechter finanzieller Lage auch der Lieferant. Der Käufer berief sich allerdings nicht darauf, dass die Sanktionen es ihm technisch unmöglich machten, die Schiedsgebühr selbst zu zahlen.
Das SCC nahm das Schiedsverfahren über den Streit gemäß seiner Schiedsordnung auf.
Der Käufer beteiligte sich vollumfänglich am Schiedsverfahren (benannte einen Schiedsrichter, trug Einwendungen zum Inhalt der Forderungen vor, erhob eine Widerklage u. ä.).
Am 12. Mai 2021 verkündete das SCC seinen Schiedsspruch zur Klage.
Im November 2018 beantragte der Käufer beim russischen staatlichen Gericht an seinem Registrierungssitz, die vertragliche Schiedsklausel für unwirksam und undurchführbar zu erklären. Die Klage wurde abgewiesen (Verfahren Nr. А60-62910/2018).
Im Juni 2020 traten neue Bestimmungen des Arbitrageprozessgesetzbuches der Russischen Föderation (Art. 248.1 und 248.2 APGB) in Kraft. Sie erlauben es von Sanktionen betroffenen russischen juristischen Personen, selbst dann vor einem russischen stattlichen Gericht gegen ausländische Vertragspartner vorzugehen, wenn eine Klausel zu Gunsten einer ausländischen Schiedsinstitution (oder eines ausländischen staatlichen Gerichts) vorliegt. Ist bereits ein Schiedsspruch ergangen, untersagt Art. 248.1 APGB die Anerkennung und Vollstreckung einer ausländischen Gerichtsentscheidung bzw. eines ausländischen Schiedsspruchs nicht, wenn sie auf Klage einer russischen Person unter Sanktionen ergangen sind. Gleiches gilt, wenn diese Person keine Einwendungen gegen eine Erörterung des Streits unter ihrer Beteiligung durch ein ausländisches Gericht oder internationales Schiedsgericht außerhalb der Russischen Föderation erhoben hat, insbesondere keinen Antrag gestellt hat, eine Klage oder Verhandlung durch ein ausländisches Gericht oder internationales Schiedsgericht außerhalb der Russischen Föderation zu untersagen.
Im Juli 2020 beantragte der Käufer auf Grundlage dieser neuen Bestimmungen beim russischen staatlichen Gericht an seinem Registrierungsort, dem Lieferanten zu untersagen, das Verfahren vor dem SCC fortzusetzen („Klageverbot“). Für den Fall einer Nichterfüllung der Gerichtsentscheidung zum Verbot der Fortsetzung des Verfahrens beantragte er die Zahlung von ca. 56 Mio. Euro (Verfahren Nr. А60-36897/2020).
Im November 2020 bzw. März 2021 wiesen das Gericht der ersten Instanz und das Kassationsgericht diesen Antrag des Käufers zurück. Die Gerichte waren der Ansicht, dass keine Beweise für Umstände vorlägen, die den Käufer daran hindern, den Rechtsweg zu beschreiten oder sein Recht auf gerichtlichen Schutz vor dem SCC wahrzunehmen.
Das Oberste Gericht folgte den Ausführungen der Instanzgerichte nicht und führte Folgendes aus [1]:
1. Ziel der Änderung des Arbitrageprozessgesetzbuches war es, Garantien für die Sicherung der Rechte und gesetzlichen Interessen einzelner Kategorien von Staatsbürgern der RF und russischer juristischer Personen festzulegen, gegen die von ausländischen Staaten restriktive Maßnahmen verhängt wurden. Diese restriktiven Maßnahmen rauben ihnen de facto die Möglichkeit, ihre Rechte vor ausländischen Gerichten, internationalen Organisationen oder Schiedsgerichten außerhalb der Russischen Föderation zu verteidigen.
2. Die Verhängung von Sanktionen gegen eine russische Person, die an einem Streit vor einem internationalen Schiedsgericht außerhalb der Russischen Föderation beteiligt ist, reicht für sich genommen aus, um eine Beschränkung des Justizzugangs für diese russische Person anzunehmen.
3. Damit ein Streit der Zuständigkeit russischer Gerichte unterstellt wird, genügt eine in prozessualer Form vorgebrachte einseitige Willenserklärung.
4. Es ist nicht zwingend notwendig, den Einfluss der restriktiven Maßnahmen auf die Durchsetzbarkeit der Schiedsklausel zu beweisen. Die Formulierung des Gesetzes unterstreicht vielmehr, dass der Nachweis dieser Umstände fakultativ ist.
5. Die Verhängung von restriktiven Maßnahmen (Verbote und persönliche Sanktionen) durch ausländische Staaten gegen russische Personen ergeben, wenn ein russisches staatliches Gericht auf Antrag des russischen Unternehmens ein Klageverbot erlässt. Bei der Prüfung dieses Antrags kann das ausländische Unternehmen am Verfahren vor dem russischen Gericht teilnehmen und seine Einwände vorzubringen. Wird dem Antrag stattgegeben, kann die Forderung des ausländischen Unternehmens gegen den russischen Beklagten vor einem russischen staatlichen Gericht eingeklagt werden, selbst wenn der Vertrag eine Schiedsklausel (oder eine Gerichtsstandsklausel) für ein ausländisches Forum enthält.
[1] Urteil des Gerichtskollegiums für Wirtschaftsstreitigkeiten des Obersten Gerichts der Russischen Föderation vom 09. Dezember 2021, Az. 309-ЭС21-6955(1-3) in der Sache А60-36897/2020.
Mit freundlichen Grüßen