Einigen D&O-Versicherungsfällen steht auf die Stirn geschrieben, dass die versicherte Person wissentlich ihre Pflichten verletzt hat und somit kein Haftpflichtanspruch besteht. In der Regel muss der Versicherer dennoch zunächst die Abwehrkosten zahlen. Kann er das vermeiden, indem er die wissentliche Pflichtverletzung in einem vorgezogenen Deckungsverfahren feststellen lässt? Nein, entschied das OLG Karlsruhe kürzlich in einem Urteil zur Haftpflichtversicherung, das sich auf die D&O-Deckung übertragen lässt.
Das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe hat in seinem Urteil vom 6. März 2025 (Az. 12 U 75/24) entschieden, dass der Versicherungsnehmer gegen seinen Haftpflichtversicherer im vorweggenommenen Deckungsprozess auf Feststellung der Verpflichtung zur Gewährung bedingungsgemäßen Deckungsschutzes klagen kann, wenn das Bestehen des Haftpflichtanspruchs nicht rechtskräftig festgestellt ist. Ob der Haftpflichtversicherer wegen vorsätzlicher Herbeiführung des Schadens nicht leisten muss, kann nach Auffassung des OLG Karlsruhe im vorweggenommenen Deckungsprozess nicht entschieden werden. Es gelte der Vorrang des Haftpflichtprozesses.
Das Urteil ist auch für die D&O-Versicherung höchst relevant, da auch hier häufig über das Vorliegen wissentlicher Pflichtverletzungen gestritten wird, für die ein Deckungsausschluss gilt.
Haftpflichtfall wegen schwerer Brandstiftung und Sachbeschädigung
Im vorliegenden Fall hatte die Versicherungsnehmerin gegen ihren Haftpflichtversicherer geklagt. In der Famlien-Deckung war auch ihr minderjähriger Sohn mitversichert. Es war zu einem Brand gekommen, der einen erheblichen Sachschaden verursacht hatte. Der Sohn wurde wegen fahrlässiger Brandstiftung verurteilt. Die Versicherungsnehmerin begehrte Versicherungsschutz, da mehrere Versicherer Regressansprüche gegen den Sohn geltend machten und ein Versicherer Haftpflichtklage gegen ihn erhoben hatte. Der Haftpflichtprozess ist noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Der Versicherer berief sich im Deckungsprozess unter anderem auf seine Leistungsfreiheit aufgrund des vorsätzlichen Handelns des mitversicherten Sohnes.
Das Landgericht Heidelberg verurteilte den Versicherer zur Gewährung von Deckungsschutz. Das OLG Karlsruhe wies die Berufung des Versicherers weitgehend zurück. Es bestätigte im Wesentlichen das Urteil des Landgerichts und präzisierte lediglich, dass der Versicherer nur zu „bedingungsgemäßem“ Versicherungsschutz verpflichtet sei. Die Revision wurde zugelassen, um zu klären, ob der Ausschlusstatbestand der Wissentlichkeit der Pflichtverletzung gemäß Paragraf 103 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) im vorweggenommenen Deckungsprozess zu prüfen ist, wenn die Voraussetzungen hierfür strittig sind. Diese Frage wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet.
Vorweggenommene Deckungsklage
Das OLG Karlsruhe entschied, dass eine Klage im vorweggenommenen Deckungsprozess, also in einem Deckungsprozess vor der rechtskräftigen Feststellung einer Schadensersatzverpflichtung im Haftpflichtprozess, zulässig sei. Eine Klage auf Befreiung von der Haftpflichtverbindlichkeit, das heißt auf Befriedigung des Haftpflichtgläubigers, komme jedoch nur in Betracht, wenn das Bestehen des Haftpflichtanspruchs rechtskräftig festgestellt wurde.
Der Grund dafür liege darin, dass es dem Haftpflichtversicherer gemäß Paragraf 100 VVG freisteht, zu entscheiden, ob er die gegen seinen Versicherungsnehmer geltend gemachten Haftpflichtansprüche erfüllt oder sich um deren Abwehr bemüht. Solange keine rechtskräftige Entscheidung im Haftpflichtprozess vorliegt, klagt der Versicherungsnehmer auf Feststellung, dass der Versicherer aufgrund einer konkret bezeichneten Haftpflichtforderung bedingungsgemäßen Versicherungsschutz gewähren muss.
Dabei sei grundsätzlich auf die Behauptungen des Geschädigten abzustellen, ohne bereits über den Haftpflichtanspruch zu entscheiden. Die Frage, ob tatsächlich eine Schadensersatzforderung bestehe, könne offenbleiben, da der Versicherer nicht nur zur Freistellung von berechtigten Forderungen, sondern auch – als gleichwertige Hauptleistungspflicht – zur Abwehr unbegründeter Ansprüche verpflichtet ist. Daher habe der Versicherte einen fälligen Anspruch auf Gewährung von Haftpflichtversicherungsschutz bereits dann, wenn er von einem Dritten auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird. Das gelte unabhängig davon, ob der Haftpflichtanspruch begründet ist oder nicht.
Keine Prüfung der wissentlichen Pflichtverletzung
Im vorweggenommenen Deckungsprozess wird als Voraussetzung für den Anspruch auf Versicherungsschutz der Eintritt des Versicherungsfalls geprüft. Es wird also geprüft, ob die geltend gemachte Forderung des Geschädigten grundsätzlich vom Versicherungsschutz umfasst ist, das Schadensereignis zeitlich in den Deckungsschutz fällt und der Schädiger versichert ist.
Der Geschehensablauf und die Deliktsfähigkeit des Versicherten sind dabei nicht relevant. Dies muss im Haftpflichtprozess geklärt werden. Insofern besteht eine Identität der Voraussetzungen. Dies führt dazu, dass die im Haftpflichtprozess getroffenen Feststellungen im Deckungsprozess bindend sind. Diese Bindungswirkung stelle sicher, dass das Haftpflicht- und das Deckungsverhältnis im Einklang bleiben, und verhindert, dass die im Haftpflichtprozess getroffene Entscheidung sowie die zugrunde liegenden Feststellungen im Deckungsprozess erneut überprüft werden können.
Nach Auffassung des Senats gilt dies auch für die inneren Tatbestandsvoraussetzungen, insbesondere in Bezug auf die Frage der Wissentlichkeit der Pflichtverletzung. Zwar ist der Versicherer für vorsätzlich herbeigeführte Schäden grundsätzlich weder zur Gewährung von Rechtsschutz noch zur Freistellung verpflichtet, da in solchen Fällen der Ausschlusstatbestand des Paragrafen 103 VVG greift. Zudem wird die Schuldform im Haftpflichtprozess oft nicht geklärt, da viele Haftungsnormen keinen Unterschied zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz machen. Wenn das Gericht in diesem Zusammenhang weitergehende Feststellungen trifft, entfalten diese im Deckungsverhältnis keine Bindungswirkung. Daraus lasse sich jedoch nicht ableiten, dass die Frage der Wissentlichkeit der Pflichtverletzung im vorweggenommenen Deckungsprozess zu klären sei.
Es bleibt offen, ob der Vorrang des Haftpflichtprozesses auch dann gelten soll, wenn keine Klärung der Schuldform im Haftpflichtprozess zu erwarten ist, weil kein Tatbestand zur Diskussion steht, der Vorsatz voraussetzt. Diese Frage kann laut dem OLG Karlsruhe jedoch unbeantwortet bleiben, da eine isolierte Entscheidung über die Schuldform im vorweggenommenen Deckungsprozess nicht möglich sei.
Um zwischen fahrlässiger und vorsätzlicher Begehung zu unterscheiden, muss auch der objektive Tatablauf geklärt werden. Vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Handelnde die Folgen der Schädigungshandlung zumindest grob voraussehen konnte und ihren Eintritt zumindest billigend in Kauf genommen hat. Die Klärung des objektiven Tatablaufs obliege jedoch dem Haftpflichtprozess. Eine Entscheidung über die Schuldform im vorweggenommenen Deckungsprozess, die auf Feststellungen zum umstrittenen Tathergang beruht, würde dem Haftpflichtprozess vorgreifen und könnte bei abweichender Beurteilung dessen Bindungswirkung unterlaufen.
Haftpflicht vs. Rechtsschutzversicherung
Das OLG Karlsruhe erkannte dabei, dass die Verlagerung der Prüfung in den nachfolgenden Deckungsprozess faktisch dazu führt, dass der Versicherer im Haftpflichtprozess Abwehrdeckung gewähren muss, obwohl er der Ansicht ist, hierzu nicht verpflichtet zu sein. Diese für den Versicherer ungünstige Position resultiert aus dem umfassenden Rechtsschutzversprechen, das er vertraglich übernommen hat. Der Versicherer müsse seine eigenen Interessen zurückstellen und könne in diesem Zusammenhang nur einen Vorbehalt der Rückforderung erklären, um gegebenenfalls nachträglich unberechtigt erbrachte Leistungen gemäß Paragraf 812 Absatz 1 Satz 1 Variante 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches vom Versicherungsnehmer zurückzufordern.
Das OLG Karlsruhe berücksichtigte auch Folgendes: Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in Bezug auf die Rechtsschutzversicherung entschieden, dass die Frage des Vorsatzes im Hinblick auf einen Haftungsausschluss in den Versicherungsbedingungen im vorweggenommenen Deckungsprozess geklärt werden muss (BGH, Urteil vom 20.05.2021, Az. IV ZR 324/19).
Der Bundesgerichtshof hat dabei betont, dass ein Vergleich zwischen der Rechtsschutz- und der Haftpflichtversicherung nicht zutrifft: Es gibt in der Rechtsschutzversicherung – anders als in der Haftpflichtversicherung – keine Bindungswirkung an das Ergebnis des Hauptprozesses, das zu einer unterschiedlichen Interessenlage der Vertragsparteien führt.
Keine Aussetzung des Verfahrens
Eine Aussetzung des Verfahrens gemäß Paragraf 148 Zivilprozessordnung bis zum Abschluss des Haftpflichtprozesses ist nach Auffassung des OLG Karlsruhe nicht möglich. Denn der vorweggenommene Deckungsprozess klärt die grundlegende Einstandspflicht des Versicherers rechtlich, und Fragen, die im Haftpflichtprozess festgestellt werden müssen, werden dabei unberücksichtigt gelassen. Eine Aussetzung würde dem Versicherer andernfalls ermöglichen, sich der ihm obliegenden Abwehrdeckung zu entziehen.
Der Anspruch des Versicherungsnehmers sei auch nicht aufgrund einer Verletzung von Obliegenheiten ausgeschlossen. Der Versicherungsschutz bleibt bestehen, wenn der Versicherungsnehmer nachweisen kann, dass die Verletzung der Obliegenheit – wie etwa Anzeige- oder Aufklärungsobliegenheiten – nicht ursächlich für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalls sowie für die Feststellung der Leistung war. Dies erfolgt im Rahmen eines sogenannten Kausalitätsgegenbeweises.
Übertragbarkeit auf D&O-Versicherungen?
Die Entscheidung des OLG Karlsruhe ist zwar grundsätzlich zu einer Familien-Haftpflichtversicherung ergangen. Da es sich bei einer D&O-Versicherung aber im Schwerpunkt um eine Haftpflichtversicherung im Sinne der Paragrafen 100 ff. VVG handelt, sind die Entscheidungsgründe im Grundsatz auf diese übertragbar. Dabei ist zu berücksichtigen, dass gerade die Gewährung von Abwehrkostenschutz zu einer der wesentlichsten Leistungen einer D&O-Versicherung zählt und das OLG Karlsruhe den Vorrang des Haftpflichtpflichtprozesses vor allem mit dem „Rechtsschutzversprechen“ des Haftpflichtversicherer begründet hat.
Inwieweit der Versicherer zur vorläufigen Gewährung von Abwehrkostenschutz verpflichtet ist, hängt jedoch weiterhin vom Einzelfall ab, insbesondere von der einzelvertraglich geregelten Leistungspflicht des Versicherers, zumal im Bereich der D&O-Versicherung die Bedingungen und Leistungsvoraussetzungen für die Gewährung von Abwehrkostenschutz sehr unterschiedlich geregelt sind.
Ob die Frage der Wissentlichkeit einer Pflichtverletzung im Deckungsprozess bereits vor Abschluss des Haftpflichtprozesses geprüft werden soll, wurde in der Rechtsprechung bisher sehr uneinheitlich entschieden. Insofern bleibt abzuwarten, ob die Entscheidung des OLG Karlsruhe Bestand haben wird.
Dr. Florian Weichselgärtner
Dieser Beitrag ist erstmals am 05. Mai 2025 im Versicherungsmonitor erschienen. Hier gelangen Sie zum Originalbeitrag.