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    13.03.2025

    Das „Herrenberg-Urteil“ des Bundessozialgerichts – Aufatmen dank Übergangsregelung


    Das sog. „Herrenberg-Urteil“ des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Juni 2022 – B 12 R 3/20 R dürfte an nahezu allen Musikschulen und Bildungseinrichtungen zu Unsicherheiten über die Sozialversicherungspflicht ihrer Honorar-Lehrkräfte geführt haben. Viele bisher als selbstständig geltende Tätigkeiten sind seit der Entscheidung als abhängige und damit sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen einzustufen. Um den betroffenen Einrichtungen und Lehrkräften - jedenfalls vorübergehend - Rechtssicherheit zu bieten, hat der Bundestag mit dem neuen § 127 SGB IV eine Übergangsregelung beschlossen.

    Das „Herrenberg-Urteil“

    In der als „Herrenberg-Urteil“ bekannt gewordenen Entscheidung hat das BSG entschieden, dass eine Musikschullehrerin, die auf Honorarbasis angestellt und in organisatorische und administrative Abläufe ihrer Musikschule eingebunden ist, als abhängig beschäftigt gilt und somit der Sozialversicherungspflicht unterliegt. Die Entscheidung baut auf den Grundsätzen der ebenfalls bekannten sog. „Honorararzturteile“ des BSG vom 4. Juni 2019 (insbesondere: B 12 R 20/18 R) auf. Dass es bei der sozialversicherungsrechtlichen Beurteilung nicht auf die Vereinbarungen der Parteien, sondern auf die tatsächliche Ausgestaltung und Durchführung der Vertragsverhältnisse ankommt, ist dabei bekannt. Streitig ist immer wieder, was die Durchführung nun bedeutet – etwa, ab wann eine Person als „eingegliedert“ in den Geschäftsbetrieb gelten muss. Mit der sog. „Herrenberg-Entscheidung“ setzt das BSG die Konkretisierung der Kriterien zur Bestimmung eines Abhängigkeitsverhältnisses fort. Für eine weisungsgebundene Eingliederung sprechen bei Lehrkräften etwa die Pflicht zur persönlichen Arbeitsleistung sowie die Festlegung bestimmter Unterrichtszeiten und des Unterrichtsortes. Auch die Pflicht, sich bei einem Ausfall wegen Erkrankung oder sonstiger Verhinderung abzumelden und die Vereinbarung eines Ausfallhonorars, deuten auf eine Eingliederung in den betrieblichen Ablauf hin. Das weicht nicht nur von der arbeitsrechtlichen Beurteilung ab; es lässt auch kaum mehr Spielräume, bei Lehrkräften überhaupt eine Sozialversicherungsfreiheit anzunehmen. Die genannten Kriterien dürften vielmehr für die meisten Arten von Unterricht typisch sein.

    Bestätigung durch das „Göttingen-Urteil“

    Im Grundsatz hat das BSG seine vorgenannte Rechtsprechung mit Entscheidung vom 5. November 2024 – B 12 BA 3/23 R in der teilweise als „Göttingen-Urteil“ bezeichneten Entscheidung fortgeführt, jedoch verdeutlicht, dass stets eine Betrachtung der Umstände im Einzelfall erforderlich sei. Das BSG hat einen für eine Volkshochschule tätigen Studenten, der Kurse zur Vorbereitung auf den Realschulabschluss im zweiten Bildungsweg anbot, ebenfalls als sozialversicherungspflichtig angesehen. Zwar war der Student in der Gestaltung des Unterrichts weisungsfrei. Er übermittelte aber regelmäßig eine Leistungseinschätzung für einzelne Schüler an die Fachbereichsleitung. Zudem hatte die Volkshochschule ihm Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt und Unterrichtszeiten mit ihm abgestimmt. Nach den maßgeblichen Verhältnissen im Einzelfall hat das BSG ebenfalls eine Sozialversicherungspflicht angenommen. Es ist deutlich, dass die Sozialversicherungspflicht hier auf Grund noch viel allgemeinerer Beobachtungen als in der „Herrenberg-Entscheidung“ angenommen wurde. Auch wenn das BSG bis heute nicht von einer Änderung seiner Rechtsprechung ausgeht, klar ist: In der Praxis – auch in der Betriebsprüfung – bedeutet das einen Paradigmenwechsel. Darauf sind viele Einrichtungen nicht vorbereitet, weil oft seit Jahren die beiderseitige Einschätzung bestand, im Einzelfall sei eine sozialversicherungsfreie Tätigkeit gegeben. Der Irrtum ist rückwirkend sehr teuer, weshalb Rufe nach „Vertrauensschutz“ und Übergangsregelungen laut wurden.

    Übergangsregelung

    Am 30. Januar 2025 hat der Deutsche Bundestag mit dem § 127 SGB IV (neue Fassung) eine Übergangsregelung beschlossen. Am 14. Februar 2025 hat der Bundesrat der Übergangsregelung zugestimmt. Sie tritt am Tag nach der Verkündung im Bundesgesetzblatt in Kraft. Diese neue Regelung ermöglicht es Bildungseinrichtungen, die Arbeitsverhältnisse von Honorar-Lehrkräften bis Ende 2026 an die neuen Anforderungen anzupassen. Sofern die Vertragsparteien bei Vertragsschluss übereinstimmend von einer selbstständigen Tätigkeit ausgegangen sind und die Person, die die Lehrtätigkeit ausübt, gegenüber dem Vertragspartner zustimmt, tritt bis zum 31. Dezember 2026 keine Versicherungs- und Beitragspflicht aufgrund einer Beschäftigung ein. Das gilt auch, wenn behördlich in der Betriebsprüfung die Sozialversicherungspflicht festgestellt wurde. Eine Versicherungspflicht tritt damit erst am 1. Januar 2027 ein, wenn die Honorartätigkeit als abhängige Beschäftigung eingestuft wird.

    Konsequenzen für die Praxis

    Für Bildungseinrichtungen und Honorarkräfte bestand spätestens seit dem „Herrenberg-Urteil“ eine erhebliche Unsicherheit. Die vorgenannten Kriterien und Grundsätze, die vor allem auf die Eingliederung in den Betrieb des Auftraggebers abstellen, sind auf alle als Honorarkräfte eingesetzten Berufsgruppen übertragbar und lassen die Annahme einer sozialversicherungsfreien Honorartätigkeit meist nicht mehr zu. Vor eigenen Einschätzungen der Umstände, ob Lehrende sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, kann man im Einzelfall nur warnen. Die Übergangsregelung jedoch verschafft Bildungseinrichtungen und ihren Honorar-Lehrkräften im Falle der Zustimmung durch die Honorarkraft für knapp zwei Jahre Planungssicherheit, was sowohl den Bildungsbetrieb sichern als auch zahlreichen Lehrkräften zugutekommen dürfte.

    Praxistipp

    Sofern beiderseitig von einer selbstständigen Tätigkeit ausgegangen wird und die Lehrkraft der Einordnung als nicht sozialversicherungspflichtig zustimmt, kann die Übergangsregelung bis zum Ende des Jahres 2026 genutzt werden. Liegt ein solcher Fall vor, können keine Beiträge für den Zeitraum bis Ende 2026 eingefordert werden. Risikominimierend kann – je nach Einzelfall – eine grundsätzliche Sozialversicherungspflicht unabhängig vom arbeitsrechtlichen Status unterstellt werden.

    Zur weiteren Absicherung sollte im Einzelfall geprüft werden, ob der Erwerbsstatus durch ein unverzüglich nach Arbeitsaufnahme beantragtes Statusfeststellungsverfahren (§ 7a SGB IV) festgestellt werden sollte. Wird der Antrag binnen eines Monats nach dem Eintritt in das Beschäftigungsverhältnis gestellt, entfällt bis zur behördlichen Feststellung einer Sozialversicherungspflicht der Beitrag gänzlich (wenn der Beschäftigte einverstanden ist), danach verschiebt sich die Zahlungspflicht zinsfrei bis zur rechtskräftigen Feststellung durch die Sozialgerichte. Dieses Verfahren eignet sich für erkennbare Zweifelsfälle oder solche, bei denen der Beschäftigte erkennbar Vorbehalte gegen eine Sozialversicherungspflicht hat, die Frage also verbindlich klären will.

    Lisa Brix
    Marie Louise Freifrau von Hammerstein

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