Landesarbeitsgericht Nürnberg vom 26. April 2024 – 8 Sa 292/23
"Erfolgt eine Zielvorgabe entgegen der arbeitsvertraglichen Vereinbarung nicht oder zu einem so späten Zeitpunkt, dass ihr keinerlei sinnvolle Anreizfunktion mehr zukommen kann, kann der Arbeitgeber sich schadensersatzpflichtig machen."
Die Parteien streiten um Schadensersatz wegen entgangener Bonuszahlungen für ein Geschäftsjahr, das dem Kalenderjahr entspricht. Neben dem jährlichen Fixgehalt erhält die Arbeitnehmerin einen Bonus, dessen Höhe sich aus dem Grad der jeweiligen Zielerreichung ergibt, wobei neben individuellen Zielen auch unternehmerische Ziele relevant sind.
Für das Geschäftsjahr 2021 veröffentlichte die Arbeitgeberin ihre Unternehmensziele am 26.10.2021 im Intranet. Nach Ablauf des Geschäftsjahres 2021 zahlte die Arbeitgeberin der Arbeitnehmerin einen Bonus, dessen Höhe sich aus einem Zielerreichungsgrad der individuellen Ziele von 100 % ergibt und insgesamt 38,46 % des gesamten Bonus bei 100prozentiger Zielerreichung entspricht. Hiergegen wendet sich die Arbeitnehmerin und verlangt die Zahlung des Differenzbetrages, der sich unter Zugrundelegung eines Zielerreichungsgrades von 100 % (auch) bei den Unternehmenszielen ergeben würde.
Zu Recht, wie das Landesarbeitsgericht Nürnberg meint. Es spricht der Arbeitnehmerin einen Schadensersatz wegen entgangenen Gewinns in Höhe des geltend gemachten Differenzbetrags gemäß §§ 280 Abs. 1 und 3, 283 Satz 1 i.V.m. § 252 BGB zu.
Nach Ansicht der Richter habe die Arbeitgeberin gegen ihre vertraglichen Pflichten verstoßen, der Arbeitnehmerin für das Geschäftsjahr 2021 eine Zielvorgabe mitzuteilen. Die Veröffentlichung der Unternehmensziele am 26.10.2021 sei in jedem Fall verspätet erfolgt. Auch wenn sich aus dem Arbeitsvertrag keine Zeitvorgabe ergebe, folge diese letztlich aus dem Zweck von Bonussystemen, die Mitarbeitermotivation zu fördern und als Anreiz zu dienen. Diese Anreizfunktion könne jedoch nur erfüllt werden, wenn der Arbeitnehmer die von ihm zu verfolgenden Ziele bereits bei Ausübung seiner Tätigkeit kennt. Insofern komme es auch nicht auf den Zeitpunkt der internen Festlegung der Unternehmensziele an, sondern auf den Zeitpunkt der Mitteilung der Ziele gegenüber dem Arbeitnehmer. Wenn die Zielvorgabe zu einem sehr späten Zeitpunkt erfolge, dass sie ihre Anreizfunktion überhaupt nicht mehr erfüllen kann, sei die Vorgabe so zu behandeln, als sei sie überhaupt nicht erfolgt. Hiervon sei jedenfalls dann auszugehen, wenn das Geschäftsjahr, um das es geht, bereits mehr als drei Viertel abgelaufen ist.
Mangels Vortrags entgegenstehender Gründe sei auch davon auszugehen, dass die Arbeitgeberin diese Pflichtverletzung zu vertreten hat.
Die einseitige Zielvorgabe sei auch durch Zeitablauf unmöglich geworden. Mit der Mitteilung der Unternehmensziele am 26.10.2021 habe die Arbeitgeberin ihre vertragliche Pflicht zur Vorgabe der Unternehmensziele für das Geschäftsjahr 2021 bereits nicht mehr erfüllen können.
Nach alledem könne die Arbeitnehmerin Schadensersatz verlangen, dessen Umfang sich nach den §§ 249 ff. BGB richte und nach § 252 Satz 1 BGB auch den entgangenen Gewinn umfasse. Gemäß § 252 Satz 2 BGB gilt als entgangen "der Gewinn, der nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen, insbesondere den getroffenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte." Regelmäßig sei davon auszugehen, dass ein Arbeitnehmer die vereinbarten Ziele erreicht hätte, wenn nicht besondere Umstände diese Annahme ausschließen. Letzteres müsse der Arbeitgeber vortragen und erforderlichenfalls beweisen.
Die Höhe des Schadensersatzes auf Grundlage eines Zielerreichungsgrades von 100 % sei auch nicht durch ein Mitverschulden der Arbeitnehmerin gemäß 254 BGB zu kürzen, weil – anders als bei einer Zielvereinbarung, bei der die Initiativlast für deren Abschluss je nach Vertragsgestaltung und Handhabung zumindest auch beim Arbeitnehmer liegen kann – die Zielvorgabe allein vom Arbeitgeber getroffen werde.
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg ist nicht überraschend und folgt der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Köln vom 06.02.2024 – 4 Sa 390/23. Die Argumente überzeugen. Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen, die beim Bundesarbeitsgericht unter dem Aktenzeichen 10 AZR 125/24 anhängig ist. Es bleibt insofern abzuwarten, wie das Bundesarbeitsgericht die Rechtsprechung zum Schadensersatz wegen entgangenen Gewinns im Hinblick auf Bonuszahlungen und vor allem die Frage, ob und wann die Unmöglichkeit einer Zielvorgabe oder Zielvereinbarung bereits vor Ablauf der Zielperiode eintreten kann, weiterentwickeln wird. Das Schadensersatzrisiko steigt jedoch, je später im Laufe der Zielperiode Ziele vereinbart oder vorgegeben werden.
Bei Zielvereinbarungen und bei Zielvorgaben, die beide systematisch voneinander zu trennen sind, sollte darauf geachtet werden, dass sie so zeitgerecht getroffen bzw. gegenüber den Arbeitnehmern kommuniziert werden, dass die Ziele innerhalb der Zielperiode noch erreicht werden können. Andernfalls drohen Schadensersatzansprüche, die je nach Ausgestaltung der geltenden Regelungen (z.B. fehlende Deckelung des Bonusbetrags) und des Zielerreichungsgrades der vorangegangenen Zielperioden aufgrund der Schätzung des Schadens gemäß § 287 ZPO auch über 100 % hinausgehen können. Der Arbeitgeber muss dann darlegen und ggf. beweisen, weshalb eine Zielerreichung von (mehr) als 100 % auch bei zeitgerechter Zielvereinbarung oder -vorgabe nicht erfolgt wäre.