Der Anwalt haftet, wenn er seinen Mandanten fälschlicherweise nicht über die Insolvenzreife aufklärt. Allerdings nur, wenn die Prüfung der Insolvenzreife Gegenstand des Beratungsvertrages geworden ist. Den Gegenstand des Beratungsvertrages muss der Mandant darlegen und beweisen. Die Anforderungen an diese Darlegungs- und Beweislast dürfen jedoch nicht überhöht werden, so der BGH in seinem Beschluss vom 26.01.2023 (Az. III ZR 91/22).
Im zu entscheidenden Fall verklagte ein Insolvenzverwalter einen Rechtsanwalt aus abgetretenem Recht auf Schadensersatz. Der Vorwurf: Der Rechtsanwalt habe den Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin unzutreffende Auskünfte zur Insolvenzreife erteilt. In der Folge hat der Geschäftsführer den Insolvenzantrag zu spät gestellt. Die erste und zweite Instanz wiesen die Klage ab. Der Kläger habe einen Vertrag, wonach die Insolvenzreife zu prüfen gewesen wäre, bereits nicht schlüssig dargelegt. Dieser Einschätzung ist der BGH entgegengetreten. Beide Vorinstanzen hätten sich mit dem klägerischen Vortrag und den entsprechenden Beweisangeboten – insbesondere einer vorlegten Rechnung – nicht ausreichend auseinandergesetzt und die Anforderungen an eine Substantiierung überspannt.
Der Insolvenzverwalter der Insolvenzschuldnerin warf dem Rechtsanwalt vor, er habe einen Beratungs- und Auskunftsfehler begangen, wodurch es zu einer verspäteten Insolvenzantragsstellung gekommen sei. Maßgeblicher Streitpunkt war der Inhalt und Umfang des Beratungsvertrages zwischen dem Rechtsanwalt und dem Geschäftsführer. Infolge mehrerer Treffen und Gespräche, deren Einzelheiten umstritten sind, kam es zur Abrechnung seitens des Rechtsanwalts in Höhe von EUR 468,27 für die „Insolvenzberatung“. Die abgerechneten Tätigkeiten wurden als „Erörterung der insolvenzrechtlichen Situation sowie Erläuterung von Folgen und Ergebnis eines Insolvenzverfahrens“ und „Erörterung über die weitere Vorgehensweise“ bezeichnet.
Laut Vortrag des Klägers sei der Rechtsanwalt im Rahmen der Besprechungstermine vom Geschäftsführer mit der Prüfung der Insolvenzreife beauftragt worden. Dem Geschäftsführer sei insbesondere wichtig gewesen, ob für ihn eine Verpflichtung zur Stellung eines Insolvenzantrages bestünde. An der Besprechung habe auch der Gesellschafter der Insolvenzschuldnerin teilgenommen, der als Zeuge angeboten wurde. Weiter seien dem Rechtsanwalt Unterlagen übergeben worden. Der Rechtsanwalt habe schließlich die Erforderlichkeit einen Insolvenzantrag zu stellen verneint. Der Rechtsanwalt hingegen behauptet, dass die Prüfung einer Pflicht zur Insolvenzantragstellung gerade nicht Beratungsgegenstand gewesen sei. Der Geschäftsführer habe ihn lediglich als Bekannten des früheren Geschäftsführers um eine zweite Meinung zur Einschätzung des Steuerberaters gebeten. Ihm wurden auch nicht ausreichend Unterlagen und Informationen zu einer umfassenden Prüfung zur Verfügung gestellt.
Die Vorinstanzen verneinten den Anspruch gegen den Rechtsanwalt, weil der Kläger bereits den Vertrag über eine etwaige Prüfung der Insolvenzreife bzw. zur Insolvenzantragstellung nicht schlüssig dargelegt habe. Aus einer allgemeinen Beratung zur wirtschaftlichen Situation der späteren Insolvenzschuldnerin ergebe sich dies nicht. Auch die Abrechnung in überschaubarer Höhe ergebe lediglich die „Erörterung der insolvenzrechtlichen Situation“ und der „weiteren Vorgehensweise“. Eine Beweisaufnahme unterblieb in beiden Instanzen.
Der BGH sah in diesem Vorgehen eine Überspannung der Anforderungen an die Substantiierungslast des Klägers. Der wesentliche Kern des Klägervortrags sei nicht zur Kenntnis genommen worden. Es liege ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vor, weil der klägerische Vortrag nicht als offensichtlich unsubstantiiert unbeachtet gelassen hätte werden dürfen. Deshalb hätte der Vortrag des Klägers nicht als unschlüssig angesehen und die Klage nicht ohne Erhebung des angebotenen Zeugenbeweises abgewiesen werden dürfen. Nach dem Vorbringen des Klägers konnte eine Haftung des Rechtsanwalts zumindest auf Basis eines Auskunftsvertrages nicht von vornherein verneint werden. Der BGH gab daher der Nichtzulassungsbeschwerde des Insolvenzverwalters aufgrund einer Gehörsrüge gemäß Art. 103 Abs. 1 GG statt. Der Rechtsstreit wurde an das Berufungsgericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
Laut BGH liegen – unterstellt man das Vorbringen des Klägers als wahr – die Voraussetzungen für einen Haftungsanspruche gegen den Rechtsanwalt vor. Ein Rechtsanwalt haftet, wenn die Auskunft für den Empfänger erkennbar von erheblicher Bedeutung ist und er sie zur Grundlage wesentlicher Entschlüsse machen will. Den Anwalt trifft vor allem dann eine Pflicht zur richtigen Auskunft, wenn er besonders sachkundig ist oder ein eigenes wirtschaftliches Interesse hat. Die Frage der Insolvenzreife hat nicht nur für das weitere Schicksal der Insolvenzschuldnerin, sondern auch für den Geschäftsführer persönlich einen hohen Stellenwert in wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht. Schließlich haftet der Geschäftsführer bei verspäteter Insolvenzantragstellung persönlich gemäß § 64 GmbHG a.F., §§ 15a, 15b InsO.
Gerade im Bereich der insolvenznahen Beratung dürfte die Entscheidung des BGH die Berufshaftung weiter verschärfen. Der Anwalt ist gut beraten, den Inhalt und Umfang der Beratung in einer schriftlichen Mandatsvereinbarung so konkret wie möglich zu erfassen. Auch und gerade bei einer freundschaftlichen Verbundenheit zum Mandanten. Denn die Grenzen, wann entscheidungserhebliche Tatsachen so hinreichend vorgetragen und bestritten sind, dass über sie Beweis zu erheben ist, und wann die Partei bzw. ihr Anwalt riskieren, vom Gericht mit unsubstantiiertem Vortrag nicht gehört zu werden, sind oftmals fließend. Zwar trägt der Mandant die Darlegungs- und Beweislast für Inhalt und Umfang des Anwaltsvertrages. Die Entscheidung des BGH zeigt allerdings, dass die Anforderungen an diese Darlegungs- und Beweislast nicht überspannt werden dürfen.