Bundesarbeitsgericht vom 11. Juli 2018 – 4 AZR 533/17
Eine einzelvertraglich vereinbarte Bezugnahmeklausel, die auf die jeweils geltenden Flächentarifverträge verweist, ist zeitdynamisch auszulegen und erfasst nicht den Haustarifvertrag eines einzelnen Arbeitgebers.
Die Parteien streiten über die Anwendbarkeit eines Tarifvertrags auf das Arbeitsverhältnis und konkret um Entgeltdifferenzansprüche. Der Arbeitgeber war zunächst Mitglied im Arbeitgeberverband, kündigte die Mitgliedschaft aber im Juni 2015 und wechselte in die Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft). Sowohl im August 2015 als auch im August 2017 wurden auf der Fläche, also durch den Arbeitgeberverband und die zuständige Gewerkschaft ver.di, Gehaltstarifverträge geschlossen. Der Arbeitgeber wiederum schloss im Juli 2016 direkt mit ver.di einen Zukunftstarifvertrag, der zwar eine teilweise Anerkennung der Fläche vorsah, allerdings Tariferhöhungen für die Jahre 2015 bis 2017 ausschloss. Der Arbeitsvertrag des Arbeitnehmers aus dem Jahr 2005 verwies auf die „jeweils geltenden Tarifverträge des Einzelhandels und die Gesamtbetriebsvereinbarungen bzw. die Betriebsvereinbarungen in der jeweils gültigen Fassung“. Der Arbeitnehmer begehrte die Entgeltdifferenz zwischen den gewährten Leistungen des Arbeitgebers und den auf der Fläche einschlägigen Entgeltsätzen.
Der Arbeitgeber ist verpflichtet, den Arbeitnehmer entsprechend der Tarifverträge der Fläche zu vergüten. Die vereinbarte Bezugnahmeklausel war als dynamische Klausel mithin so auszulegen, dass sämtliche auch nachfolgende Tarifverträge erfasst sein sollen, da der Verweis auf Branchentarifverträge als Verweis auf die jeweils anwendbaren Flächentarifverträge zu verstehen sei. Auch der Umstand, dass neben den Flächentarifverträgen auch noch auf (Gesamt-)Betriebsvereinbarungen verwiesen wurde, lässt nach Ansicht des Gerichts nicht den Rückschluss zu, dass auch ein Haustarifvertrag Anwendung finden solle. Das BAG löst eine etwaige durch diese Sichtweise entstehende Kollision zwischen arbeitsvertraglicher Bezugnahme und Tarifbindung aufgrund Mitgliedschaft in der Gewerkschaft nach dem Günstigkeitsprinzip (Kollisionsregel, die im Einzelfall besagt, dass die jeweils für den Arbeitnehmer günstigere Regelung Anwendung findet) auf. Ob aber ein Arbeitsvertrag entsprechend günstigere Regelungen als ein Tarifvertrag bereithält, ist durch einen Sachgruppenvergleich zu ermitteln und die im inneren Zusammenhang stehenden Teilkomplexe sind gegenüber zu stellen.
Die zugrundeliegende Rechtsfrage war lange Zeit umstritten und hat vor allem mit der Aufgabe der Gleichstellungsabrede wieder neue Brisanz erhalten. Sinn und Zweck der Gleichstellungsabrede war es, eine Gleichbehandlung zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern zu erzielen. Diese Rechtsprechung hat das BAG 2006 endgültig aufgegeben und sieht nun nicht mehr den Sinn und Zweck einer Bezugnahmeklausel allein in der Gleichstellung der Arbeitnehmer, wenn sich dies nicht auch aus dem Wortlaut ergibt. Während unter der Annahme der Gleichstellungsabrede durchaus entschieden wurde, dass eine Bezugnahmeklausel grundsätzlich auch einen Haustarifvertrag erfassen kann, wird dies nun eher beiläufig durch das BAG aufgegeben. Ausweislich der nun (geänderten) Rechtsprechung (noch anders bspw. in der Entscheidung vom 23. Januar 2008 – 4 AZR 602/06) kommt es nun nicht mehr auf weitere anwendbare kollektive Regelungen an. In dieser sowie auch in weiteren früheren Entscheidungen wurde maßgeblich darauf abgestellt, ob zugleich auch auf Betriebsvereinbarungen verwiesen wurde und somit zum Ausdruck kommt, dass man gerade eine Einheitlichkeit für den Betrieb begründen möchte. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der früheren Rechtsprechung fand nicht statt. Rechtsunsicherheit besteht gleichwohl, da zum einen die Rechtsprechung von der Auslegung der Inbezugnahmeklausel abhängt und zum anderen ein ggf. durchzuführender Sachgruppenvergleich zu einem anderen Ergebnis führen kann. Es bleibt abzuwarten, wie Folgeentscheidungen begründet werden.
Welche Gründe den Senat veranlasst haben, von dieser Rechtsprechung Abstand zu nehmen, ist den Entscheidungsgründen bedauerlicherweise nicht zu entnehmen. Dadurch ergibt sich Rechtsunsicherheit jedenfalls in den Fällen, in denen eine am Regelungszweck orientierte Auslegung von Bezugnahmeklauseln zu einem anderen Ergebnis führen würde als eine wortlautgetreue Auslegung.
Soweit Arbeitgeber den Abschluss eines Haustarifvertrags planen, ist daher genau zu prüfen, ob die arbeitsvertraglichen Inbezugnahmeklauseln auch einen etwaigen Haustarifvertrag erfassen. Kommt man hier zu einem negativen Ergebnis, müssen kollektivrechtliche Vorkehrungen getroffen werden, etwa durch Begrenzung des Geltungsbereichs. Andernfalls ist einem „Rosinenpicken“ Tür und Tor geöffnet und das ursprüngliche Ansinnen (keine weitere Bindung an die Tarifverträge der Fläche) konterkariert, weil dann frei gewählt werden kann, auf was sich der Arbeitnehmer berufen möchte.
Wenn Sie Fragen zu diesem Thema haben, wenden Sie sich gerne an Dr. Kathrin Bürger.