Ihre
Suche

    28.02.2022

    Stärkung der Rechte von (schwer-)behinderten Arbeitnehmern während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses


    Europäischer Gerichtshof vom 10. Februar 2022 – C-485/20

     

    Die meisten Arbeitnehmer fühlen sich während der ersten sechs Monate eines neuen Arbeitsverhältnisses noch nicht wirklich sicher – zu Recht: Sowohl der strenge allgemeine Kündigungsschutz, der für alle Arbeitnehmer gleichermaßen gilt, als auch der noch strengere, besondere Kündigungsschutz, der für besonders schützenswerte Gruppe wie schwerbehinderte Personen gilt, beginnt in der Regel erst nach sechs Monaten ununterbrochenen Bestehens des Arbeitsverhältnisses. Meistens ist zudem noch eine Probezeit vereinbart, während der die Kündigungsfrist stark verkürzt ist.

     

    Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einer Entscheidung diese Unsicherheit während der ersten sechs Monate zumindest für (schwer-)behinderte Arbeitnehmer wohl deutlich reduziert: So hat das Gericht entschieden, dass die Kündigung von (schwer-)behinderten Personen schon während der Probezeit nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist.

     

    Sachverhalt

     

    Der klagende Arbeitnehmer war als Facharbeiter für Wartung und Instandhaltung der Schienenwege bei einer belgischen Eisenbahngesellschaft angestellt und befand sich noch in der Probezeit. Aufgrund eines Herzfehlers wurde ihm ein Herzschrittmacher implantiert. Da dieser sensibel auf elektromagnetische Felder reagiert, war eine Beschäftigung in der Nähe der Gleisanlagen nicht mehr möglich. Zudem wurde ihm eine Behinderung zuerkannt. Der Arbeitnehmer wurde daher zunächst drei Monate als Lagerist beschäftigt und schließlich entlassen mit der Begründung, er könne die Aufgaben, für die er eingestellt worden sei, nicht mehr erfüllen. Für Bedienstete sei während der Probezeit – anders als bei endgültig eingestellten Bediensteten - keine Versetzung an einen anderen Arbeitsplatz vorgesehen.

     

    Die Entscheidung

     

    Der EuGH hatte zu entscheiden, ob diese Vorgehensweise mit den Vorgaben der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG vereinbar ist. Diese Richtlinie setzt fest, dass „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“ getroffen werden müssen. Er urteilte, dass auch Arbeitnehmer in der Probezeit von der Richtlinie erfasst würden und als „angemessene Vorkehrung“ einem behinderten Arbeitnehmer zunächst statt einer Kündigung ein anderer Arbeitsplatz zuzuweisen sei, sofern der Arbeitgeber dadurch nicht unverhältnismäßig belastet werde. Für die Beurteilung, wann eine solche unverhältnismäßige Belastung vorliege, seien insbesondere der finanzielle Aufwand, die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz des Unternehmens, öffentliche Mittel oder andere Unterstützungsmöglichkeiten entscheidend. Auch müsse es eine freie, für den Arbeitnehmer aufgrund seiner Kompetenz und die Fähigkeiten geeignete Stelle geben. Dies sei jedoch vorab zu prüfen.

     

    Konsequenzen für die Praxis

     

    Diese Entscheidung wird wohl auch Auswirkungen auf das deutsche Rechtssystem haben: Für einen in Deutschland beschäftigten schwerbehinderten Arbeitnehmer gilt ein besonderer Kündigungsschutz erst nach sechs Monaten ununterbrochener Betriebszugehörigkeit. Der deutsche Gesetzgeber wollte hierdurch Einstellungshemmnisse bei der Beschäftigung von schwerbehinderten Arbeitnehmern abbauen, da ein sofortiger erhöhter Kündigungsschutz eines schwerbehinderten Arbeitnehmers möglicherweise abschreckend für manche Arbeitgeber wirkt und somit die Chancen von schwerbehinderten Bewerbern am Arbeitsmarkt senken könnte. Die Entscheidung könnte diese bewusste gesetzgeberische Entscheidung und ihre gewünschte Wirkung konterkarieren. Arbeitgeber auch in Deutschland müssen nun wohl auch während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses einen zumindest abgeschwächten Kündigungsschutz beachten, indem sie vor der Entlassung eines (schwer-)behinderten Arbeitnehmers die Vorgaben des EuGH zu einer möglichen Versetzung prüfen sollten. Die Bereitschaft, (schwer-)behinderte Personen einzustellen, könnte dadurch sinken.

     

    Praxistipp

     

    Es bleibt abzuwarten, inwieweit dieses Urteil durch die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit und den deutschen Gesetzgeber aufgegriffen wird. Es ist jedoch in jedem Fall damit zu rechnen, dass (schwer-)behinderte Arbeitnehmer demnächst mit dieser Entscheidung argumentieren werden. Arbeitgebern ist daher zu raten, bereits im Vorfeld einer Kündigung eines (schwer-)behinderten Arbeitnehmers die Vorgaben des EuGH im Blick zu behalten und diese entsprechend zu berücksichtigen.

     

    Regina Holzer

     

    Striktes Verbot der Mitgliederwerbung für Gewerkschaften durch den Personalrat
    Bundesverwaltungsgericht vom 08.08.2024 – 5 PB 3.24 „Sowohl der Personalrat als…
    Weiterlesen
    Das „Herrenberg-Urteil“ des Bundessozialgerichts – Aufatmen dank Übergangsregelung
    Das sog. „Herrenberg-Urteil“ des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Juni 2022 – …
    Weiterlesen
    Zwischen den Stühlen – der Fremdgeschäftsführer (und die Kündigungsfrist)
    "Zwischen den Stühlen sitzen" ist eine Redewendung, die auf einen gewissen Inter…
    Weiterlesen
    ADVANT Beiten berät Banyan Software bei Übernahme von FoxInsights
    Freiburg, 10. Februar 2025 – Die internationale Wirtschaftskanzlei ADVANT Beiten…
    Weiterlesen
    BAG begrenzt digitales Zugangsrecht der Gewerkschaften
    Erfreulich für gewerkschaftsgeplagte Arbeitgeber ist das Urteil des Bundesarbeit…
    Weiterlesen
    Digitale Entgeltabrechnung nur mit Einwilligung des Beschäftigten?
    Bundesarbeitsgericht vom 28. Januar 2025, Az. 9 AZR 48/24 Zwar sind die Zeiten …
    Weiterlesen
    "Immer Ärger mit den Paukern" – Der Arbeitnehmerstatus bei Lehrern
    "Immer Ärger mit den Paukern" oder "Zur Hölle mit den Paukern" sagten jedenfalls…
    Weiterlesen
    "The same procedure as every year, Erik" – Arbeitsrechtliche Änderungen 2025
    "Good evening, Miss Sophie, good evening - Good evening, James - You are looking…
    Weiterlesen
    Krankenhausreform kommt – was heißt das nun?
    Das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) hat am 22. November 2024 d…
    Weiterlesen