Eltern haften für ihre Kinder, d. h. Konzernmütter für Kartellverstöße ihrer Tochtergesellschaften. Und Rechtsnachfolger für das Fehlverhalten ihrer Vorgänger. Im europäischen Kartellbußgeldrecht gilt dies aufgrund einer sehr weiten Auslegung des kartellrechtlichen Unternehmensbegriffs bereits seit langem. Nun hat der EuGH entschieden, dass der weite kartellrechtliche Unternehmensbegriff auch für die Beantwortung der Frage maßgeblich ist, wer neben oder anstelle der den Kartellverstoß begehenden Gesellschaft auf Kartellschadensersatz in Anspruch genommen werden kann.
Das Vorabentscheidungsverfahren Skanska betraf die finnische „Wurstlücke“. Das Unternehmen Sata-Asfaltti hatte sich über Jahre an einem Kartell auf dem finnischen Asphaltmarkt beteiligt. Der Oberste Verwaltungsgerichtshof Finnlands setzte auf der Grundlage des Grundsatzes wirtschaftlicher Kontinuität gegen Skanska eine Geldbuße fest, weil das Unternehmen die wirtschaftlichen Aktivitäten von Sata-Asfaltti übernommen und fortgeführt hatte. Geschädigte verlangten in der Folge von Skanska einen Ausgleich der Schäden, die ihnen aus den kartellbedingt überhöhten Preisen für Asphaltierungsarbeiten entstanden waren. Das vorlegende Zivilgericht wollte wissen, ob der weite kartellrechtliche Unternehmensbegriff des europäischen Kartellbußgeldrechts auch für die Beantwortung der Frage maßgeblich ist, wer für Kartellschäden ausgleichspflichtig ist.
Die Antwort des EuGH ist deutlich: Der Ersatzpflichtige für den Kartellschaden bestimmt sich unmittelbar nach Unionsrecht. Ersatzpflichtiger ist das Unternehmen im Sinne des Art. 101 AEUV. Der kartellrechtliche Unternehmensbegriff ist unionsrechtlich autonom, d.h. insbesondere ohne Rückgriff auf das Trennungsprinzip des mitgliedstaatlichen Gesellschaftsrechts, auszulegen. Unternehmen im Sinne des Art. 101 AEUV ist eine wirtschaftliche Einheit, die sich auch aus mehreren juristischen Personen oder Personengesellschaften zusammensetzen kann. Das so definierte „Unternehmen“ trägt sowohl bußgeldrechtlich als auch zivilrechtlich die Verantwortung für den Kartellverstoß.
Anders formuliert: Eine Muttergesellschaft haftet – bei Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit – nicht nur bußgeldrechtlich, sondern auch zivilrechtlich für Kartellverstöße ihrer Konzerntöchter. Ebenso haftet ein Rechtsnachfolger – unter den Voraussetzungen wirtschaftlicher Kontinuität – nicht nur bußgeldrechtlich, sondern auch zivilrechtlich für Kartellverstöße seines Rechtsvorgängers.
Nach § 33a Abs. 1 GWB ist ersatzpflichtig, „wer“ schuldhaft einen Kartellverstoß begangen hat. Bei Verstößen gegen das europäische Kartellverbot des Art. 101 AEUV steht nunmehr fest, dass dieses „Wer“ nicht nur die kartellbeteiligte Gesellschaft meint, sondern auch die in wirtschaftlicher Einheit mit ihr verbundene Konzernobergesellschaft einschließt – wie auch einen Rechtsnachfolger, der ihre Geschäftstätigkeit in wirtschaftlicher Kontinuität fortsetzt. Bußgeldadressat und Ersatzpflichtiger des Kartellschadensersatzanspruchs ist also stets das Unternehmen im wirtschaftlichen Sinne des Art. 101 AEUV. Um eine Begriffsspaltung zu vermeiden, ist davon auszugehen, dass deutsche Zivilgerichte diesen weiten Unternehmensbegriff zukünftig auch zugrunde legen werden, wenn sie über die zivilrechtliche Haftung für Verstöße gegen deutsches Kartellrecht entscheiden.
Sind Sie Geschädigter eines Kartells? Unter Umständen können Sie nicht nur von der Tätergesellschaft, sondern auch von deren Konzernmutter oder deren Rechtsnachfolger einen Schadensausgleich verlangen. Damit können Sie Ihre Ansprüche auch am Gerichtsstand der Konzernmutter bzw. des Rechtsnachfolgers durchsetzen, wenn eine gerichtliche Durchsetzung am Gerichtsstand der Tätergesellschaft mit (prozessualen) Schwierigkeiten verbunden ist.
Planen Sie eine Unternehmenstransaktion? Dann bedenken Sie, dass der Erwerber eines kartellbeteiligten Unternehmens unter den Voraussetzungen wirtschaftlicher Kontinuität nicht „nur“ bußgeldrechtlich für die Kartellverstöße des Zielunternehmens einzustehen hat. Kartellgeschädigte können ihn auch auf Schadensersatz in Anspruch nehmen. Diese Risiken sind bei der Due Diligence zu berücksichtigen und sollten durch entsprechende Garantien im Unternehmenskaufvertrag abgemildert werden.
Fragen dazu beantwortet Ihnen Dr. Christian Heinichen gerne.