Die Entscheidung des BGH vom 27.09.2022, KZB 75/21
Schiedsverfahren sind für Unternehmen eine interessante Alternative zu einem Prozess vor einem staatlichen Gericht. Neben der Nichtöffentlichkeit des Verfahrens, der oft kürzeren Verfahrensdauer und der Möglichkeit, Schiedsrichter nach ihrer fachlichen, z.B. technischen Expertise auszuwählen, ist Vorteil des Schiedsverfahrens: Es gibt nur eine Instanz und keine Berufungsinstanz, d.h. die Entscheidung des Schiedsgerichts ist abschließend. Dass ein Schiedsgericht dennoch nicht immer das „letzte Wort“ hat, bestätigt eine aktuelle Entscheidung des BGH, der sich mit der Überprüfbarkeit von Schiedssprüchen und der Möglichkeit ihrer Aufhebung befasst hat. Der BGH beantwortet die bisher umstrittene Frage, welcher Prüfungsmaßstab für Schiedssprüche in kartellrechtlichen Fragen gilt. Nach der Entscheidung des Kartellsenats des BGH gehören die Bestimmungen des Kartellrechts zum sog. „ordre public“, den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts. Ein Schiedsspruch kann daher von einem staatlichen Gericht vollumfänglich dahingehend überprüft werden, ob seine Anerkennung zu einem Verstoß gegen den ordre public führen würde. Eine bloße Evidenzkontrolle ist nicht ausreichend.
Der BGH hatte über die Aufhebung eines Schiedsspruchs wegen eines möglichen Verstoßes gegen den ordre public zu entscheiden. Nach § 1059 Abs. 2 Nr. 2 lit. b ZPO ist ein solcher Aufhebungsantrag begründet, wenn der Schiedsspruch gegen die wesentlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung (ordre public) verstößt.
Die Parteien des Schiedsverfahrens stritten um die Kündigung eines Pachtvertrags über einen von zwei Steinbrüchen im Büdinger Wald in Hessen. Die Eigentümerin kündigte der Pächterin einer der Steinbrüche den Pachtvertrag zum 31. Januar 2018, fünf Jahre vor dem Ende der Laufzeit. Die Eigentümerin, die Antragsgegnerin, forderte die Pächterin, die Antragstellerin, außerdem auf, ihre zum Steinbruch gehörigen Betriebsmittel nach der Kündigung an die Pächterin des anderen, ebenfalls in diesem Gebiet belegenen Steinbruchs zu veräußern. Ziel der Kündigung war es, die Antragsgegnerin dazu zu bringen, den Steinbruch an ihre Konkurrentin zu veräußern, um eine höhere Pacht erzielen zu können, nachdem der Wettbewerb zwischen den zwei Steinbrüchen beseitigt war.
Die Pächterin erwirkte gegen die Eigentümerin ein Bußgeld beim Bundeskartellamt wegen Verstoßes gegen kartellrechtliche Bestimmungen. In der Kündigung und der Aufforderung zur Veräußerung der Betriebsmittel sah das Bundeskartellamt einen Verstoß gegen § 21 Abs. 2 Nr. 1 GWB und § 21 Abs. 3 Nr. 2 GWB und verhängte ein Bußgeld gegen die Antragsgegnerin. Danach ist es Unternehmen verboten, einem anderen Unternehmen Nachteile anzudrohen, um sie zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Außerdem ist es Unternehmen verboten, ein anderes Unternehmen zum Zusammenschluss mit anderen Unternehmen zu zwingen. Nachdem die Antragsgegnerin das Schiedsgericht anrief, wurde die Antragstellerin durch den Schiedsspruch zur Herausgabe der Pachtfläche des Steinbruchs verurteilt. Anders als das Bundeskartellamt sah das Schiedsgericht darin keinen Verstoß gegen kartellrechtliche Vorschriften.
Gegen den Schiedsspruch legte die Antragstellerin Widerklage ein. Diese war darauf gerichtet, die Unwirksamkeit der Kündigungen und die Unzulässigkeit der Androhung von Nachteilen durch die Antragsgegnerin festzustellen. Dies blieb erfolglos.
Die Antragstellerin leitete daraufhin ein Verfahren zur Aufhebung des Schiedsspruchs vor dem OLG Frankfurt a.M. ein. Mit Beschluss vom 22. April 2021 lehnte das Oberlandesgericht den Antrag ab und begründete dies damit, dass der Schiedsspruch nicht gegen ordre public verstoße. Die hiergegen eingelegte Rechtsbeschwerde zum BGH hatte Erfolg.
Der BGH entschied, dass der Schiedsspruch umfassend auf Verstöße gegen kartellrechtliche Vorschriften zu überprüfen sei. Der BGH kam zum Ergebnis, dass es zur Wahrung des ordre public nicht ausreichend sei, eine bloße Evidenzkontrolle durchzuführen. Das Gericht könne und müsse alle tatsächlichen und rechtlichen Aspekte vollständig auswerten. Der BGH kam zum Ergebnis, dass die Kündigung und Zufügung von Nachteilen Verstöße gegen kartellrechtliche Vorschriften (§ 21 Abs. 2 Nr. 1 GWB und § 21 Abs. 3 Nr. 2 GWB) darstellten.
§ 1059 Abs. 2 Nr. 2 lit. b ZPO sieht vor, dass ein Schiedsspruch aufgrund eines Verstoßes gegen den ordre public aufgehoben werden kann. Unter ordre public versteht man die Gesamtheit der wesentlichen Grundsätze einer Rechtsordnung. Ein Verstoß gegen den ordre public liegt somit vor, wenn die Entscheidung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist, d.h. der Schiedsspruch eine Norm verletzt, die die Grundlagen des staatlichen oder wirtschaftlichen Lebens regelt.
Es ist allgemein anerkannt, dass die kartellrechtlichen Verbotsvorschriften der §§ 19, 20, 21 GWB zu diesen elementaren Grundlagen des deutschen Rechts gehören.
Der BGH entschied, dass es zur Entscheidung über Verstöße gegen ordre public stets einer vollumfänglichen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht bedürfe. Er stellte fest, dass im vorliegenden Fall die effektive Durchsetzung der kartellrechtlichen Verbote des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung und wettbewerbsbeschränkender Absprachen nach §§ 19, 20 und 21 GWB bei einer bloßen Evidenzkontrolle nicht gewahrt sei. Die richtige Anwendung der kartellrechtlichen Bestimmungen durch das Schiedsgericht müsse überprüft werden, da diese zum ordre public, dem „Kernbestand“ der deutschen Rechts-ordnung, gehörten.
Der BGH erteilte der vom OLG Frankfurt a.M. vertretenen Ansicht, dass eine geringe Prüfungsintensität ausreiche, eine Absage. Das OLG Frankfurt hatte argumentiert, dass eine umfassende kartellrechtliche Prüfungskompetenz der staatlichen Gerichte nicht zur privatautonomen Natur der Schiedsgerichtbarkeit passe. Die autonome Entscheidung der Parteien, für die Streitbelegung das Verfahren vor einem Schiedsgericht zu vereinbaren, würde durch die Übertragung der vollumfänglichen Überprüfungskompetenz einer Entscheidung auf ein staatliches Gericht unterlaufen werden. Das OLG Frankfurt a.M. wies auf die Gefahr hin, dass das Schiedsgericht zu einer bloßen Vorinstanz degradiert würde.
Mit seiner Entscheidung schloss sich der BGH auch an seine Rechtsprechung zur früheren Rechtslage an. Mit Urteil vom 27. Februar 1969 (Az. KZR 3/68) hatte der BGH entschieden, dass staatliche Gerichte im Rahmen der Anerkennung und Vollstreckung eines Schiedsspruchs die Entscheidung des Schiedsgerichts eigenständig auf Verstöße gegen die öffentliche Ordnung zu überprüfen haben. Daran anknüpfend argumentierte der BGH in seiner aktuellen Entscheidung, dass eine vollumfängliche Überprüfung der schiedsgerichtlichen Entscheidung im vorliegenden Fall zur Wahrung des öffentlichen Interesses an einem funktionierenden Wettbewerb notwendig sei.
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist ein Schiedsspruch nach § 1059 Abs. 2 Nr. 2 lit. b ZPO aufzuheben, wenn er mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Das Kriterium der Offensichtlichkeit spreche jedoch nicht gegen eine vollumfängliche Überprüfung der Entscheidung des Schiedsgerichts. Der Schiedsspruch sei bereits dann mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar, wenn er eine Norm verletze, die die Grundlagen des staatlichen Lebens regele. Dies sei bei einem Verstoß gegen die §§ 19, 20, 21 GWB gegeben.
Der BGH wies außerdem zutreffend darauf hin, dass kartellrechtliche Streitigkeiten oft durch komplexe tatsächliche und rechtliche Sachverhalte gekennzeichnet sind. Der BGH erachtete eine umfassende Prüfungskompetenz der staatlichen Gerichte deshalb für notwendig, um eine sachangemessene Prüfung durchzuführen. Eine bloße Evidenzkontrolle, wie sie von der Vorinstanz, dem OLG Frankfurt a.M., angenommen wurde, würde die effektive Durchsetzung der §§ 19, 20, 21 GWB zu sehr erschweren.
Das im internationalen Zivilverfahrensrecht geltende Verbot einer révision au fond, stehe einer vollumfänglichen Prüfung des Schiedsspruchs nicht im Weg. Das Verbot untersagt zwar die gerichtliche Nachprüfung eines Schiedsspruchs in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht. Wenn aber die Anwendung elementarer Grundsätze einer Rechtsordnung Gegenstand der Nachprüfung ist, dann gilt dieses Verbot nicht.
Die Entscheidung des BGH vom 27.09.2022 beantwortet eine langjährige Streitfrage und argumentiert plausibel, weshalb eine vollumfängliche Prüfung eines Schiedsspruchs im Hinblick auf zwingende kartellrechtliche Bestimmungen notwendig ist, um den ordre public zu wahren. Hintergrund ist die effektive Durchsetzung des Kartellrechts. Ein staatliches Gericht muss also, wenn ein möglicher Verstoß gegen die §§ 19, 20, 21 GWB im Raum steht, alle tatsächlichen und rechtlichen Aspekte des Falles vollständig berücksichtigen und bewerten. Kommt es zu dem Ergebnis, dass diese Vorschriften vom Schiedsgericht nicht oder nicht richtig angewendet wurden, kann der Schiedsspruch aufgehoben werden.
Für die Praxis bedeutet dies, dass die Entscheidung eines Schiedsgerichts, das ein Verfahren abschließend und ohne weiteren Instanzenzug entscheidet, durch ein deutsches staatliches Gericht im Verfahren der Aufhebung von Schiedssprüchen überprüft werden kann. In Ausnahmefällen, z.B. bei einem Verstoß gegen die wesentlichen Grundsätze des deutschen Rechts (ordre public), kann die Entscheidung eines Schiedsgerichts aufgehoben werden und hat damit keinen Bestand. Dies sollte berücksichtigt werden, wenn sich Vertragsparteien darauf verständigen, mit einer Schiedsklausel für den Fall eines Rechtsstreits die Entscheidung einem Schiedsgericht zuzuweisen, anstelle der staatlichen Gerichte. Dennoch dürften insgesamt die Vorteile des Schiedsverfahrens überwiegen. Es eignet sich erfahrungsgemäß insbesondere für Streitigkeiten, denen komplexe technische Sachverhalte zugrunde liegen oder bei denen die Nichtöffentlichkeit des Verfahrens zur Wahrung der Geheimhaltungsinteressen der Parteien besonders wichtig ist.