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    10.05.2022

    Freiwillige Corona-Prämien - freier Zugriff für Pfändungsgläubiger?


    Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg vom 23. Februar 2022 – 23 Sa 1254/21

     

    Eine tarifliche Corona-Prämie, die ohne Berücksichtigung der konkreten, individuellen Belastung bzw. Gefährdung durch die Corona-Krise allen Arbeitnehmern gewährt wird, unterliegt nicht dem Pfändungsschutz des § 850a Nr. 3 Zivilprozessordnung (ZPO) und kann (unter Berücksichtigung der Pfändungsfreigrenzen) gepfändet werden.

     

    Sachverhalt

     

    Der Arbeitnehmer befand sich in einem privaten Insolvenzverfahren und hatte „alle pfändbaren Forderungen auf Bezüge“ aus seinem Arbeitsverhältnis an den Insolvenzverwalter abgetreten. Der geltende Tarifvertrag sah für die Jahre 2020 und 2021 jeweils eine einmalige, unterschiedslos an alle Arbeitnehmer zu gewährende Corona-Prämie vor (als steuerfreier Zuschuss). Der Arbeitgeber zahlte die Prämien aufgrund der Abtretung jedoch nicht an den Arbeitnehmer, sondern an dessen Insolvenzverwalter aus. Mit seiner Klage begehrte der Mitarbeiter die (nochmalige) Zahlung der Prämien an ihn selbst und machte insbesondere geltend, sie unterlägen als „Gefahr- oder Erschwerniszulage“ dem Pfändungsschutz des § 850a Nr. 3 ZPO.

     

    Die Entscheidung

     

    Dieser Auffassung erteilte das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg jedoch eine Absage. Obwohl die Prämien ausweislich der tariflichen Regelung ausdrücklich die „Abmilderung der zusätzlichen Belastung durch die Corona-Krise“ bezweckten, seien sie dennoch nicht vor einer Pfändung geschützt. Dem Pfändungsverbot des § 850a Nr. 3 ZPO unterlägen nur solche Prämien bzw. Zulagen, die eine besondere, über das normale Maß hinausgehende Arbeitserschwernis oder eine besondere, mit der Arbeitsleistung einhergehende Gefährdung ausgleichen sollen. Da die tarifliche Prämienregelung aber nicht danach differenziere, in welchem Ausmaß die einzelnen Arbeitnehmer aufgrund der Corona-Krise besonderen Erschwernissen oder Gefährdungen (z.B. erhöhtes Infektionsrisiko durch häufigen direkten Kundenkontakt) ausgesetzt seien, sondern die Prämien vielmehr allen Beschäftigten unabhängig von der Art ihrer Arbeitsleistung zukommen sollten, diene die tarifliche Prämie nur dem Ausgleich bzw. der Abmilderung der „gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise“, ohne einen Bezug zur individuellen Arbeitsleistung und den Umständen ihrer Erbringung herzustellen. Angesichts dieser tariflichen Zweckbestimmung handele es sich nicht um „Gefahr- oder Erschwerniszulagen“ im Sinne des § 850a Nr. 3 ZPO. Folglich seien die Prämien pfändbar und ihre Auskehrung durch den Arbeitgeber an den Insolvenzverwalter rechtens.

     

    Konsequenzen für die Praxis

     

    Die Entscheidung trägt nicht zur Rechtssicherheit bei – die Frage der Pfändbarkeit von Corona-Prämien ist derzeit höchst umstritten (mit Ausnahme der Corona-Prämien im Pflegebereich, deren Unpfändbarkeit gesetzlich angeordnet ist). So hat etwa das LAG Niedersachsen in einer früheren Entscheidung (vom 25. November 2021 - 6 Sa 216/21) den gegenteiligen Standpunkt vertreten und einen Pfändungsschutz bejaht. Beide Gerichte haben jedoch die Revision zugelassen, so dass eine endgültige Klärung wohl erst durch das Bundesarbeitsgericht erfolgen wird. Dabei ist zumindest zweifelhaft, ob der Anwendungsbereich des § 850a Nr. 3 ZPO tatsächlich so eng ausgelegt werden kann, wie das LAG Berlin-Brandenburg meint. Dem Wortlaut der Vorschrift lässt sich eine derartige Einschränkung, wonach nur solche Zulagen pfändungsfrei sein sollen, die den individuellen Belastungs- oder Gefährdungsgrad des einzelnen Arbeitnehmers berücksichtigen, jedenfalls nicht entnehmen.

     

    Praxistipp

     

    Arbeitgeber sind daher gut beraten, im Fall einer Pfändung von Arbeitseinkommen eine ggf. betroffene Corona-Prämie bis zu einer endgültigen Klärung durch das BAG zunächst weder an den Arbeitnehmer noch an den Pfändungsgläubiger auszuzahlen, sondern zu versuchen, sich mit Arbeitnehmer und Gläubiger auf einen vorläufigen Einbehalt zu einigen oder, falls dies misslingt, den Prämienbetrag gerichtlich zu hinterlegen. Ansonsten besteht das Risiko, an den falschen Gläubiger zu leisten, was dazu führen kann, die Zahlung von diesem zurückfordern und an den anderen (richtigen) Gläubiger nochmals leisten zu müssen.

     

    Sofern sich die Auffassung des LAG Berlin-Brandenburg durchsetzt, hängt die Frage des Pfändungsschutzes zudem von der konkreten Ausgestaltung der (tariflichen oder betrieblichen) Prämienregelung selbst ab, so dass hier jeweils eine Betrachtung und Prüfung des Einzelfalls notwendig wäre.

     

    Dr. Michael Matthiessen

     

    Zur besseren Lesbarkeit wird in dem vorliegenden Dokument auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Es wird das generische Maskulin verwendet, wobei alle Geschlechter gleichermaßen gemeint sind.

     

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