Der Europäische Gerichtshof hat am 12.1.2023 die Haftung des Reiseveranstalters erheblich erweitert. Auf den ersten Blick geht es in der Entscheidung EuGH C 396/21 nur um einen typischen Corona Fall: der Reisende war im März 2020 nach Gran Canaria geflogen. Am 2. Tag seines Aufenthaltes verhängte Spanien eine Ausgangssperre. Strände durften nicht mehr aufgesucht, Hotelzimmer nur noch zum Essen verlassen werden, Pool und Liegen waren gesperrt.
Zurück in Deutschland verlangte der Kunde eine Preisminderung von 70% des Reisepreises. Der Reisveranstalter sah dies anders; das LG München I legte den Streit dem EuGH vor. Dieser entschied jetzt im Sinne des Reisenden: weder die staatliche Veranlassung der Maßnahmen noch der Umstand, dass es zu gleichen Maßnahmen in Deutschland gekommen ist, stehen dem Anspruch auf Minderung entgegen. Entscheidend sei allein, ob das Leistungsversprechen des Reiseveranstalters eingehalten worden sei. Diese Leistungen seien nicht nur diejenigen, die ausdrücklich im Pauschalreisevertrag vereinbart worden seien, sondern auch diejenigen, die damit zusammenhängen und die sich aus dem Ziel des Vertrages ergäben.
Dieses Leistungsversprechen zu bestimmen und den Wert der nicht oder nicht vertragsgerecht erbrachten Leistungen festzustellen, ist jetzt Aufgabe des LG München I – dorthin wurde der Fall zur Entscheidung zurückverwiesen.
Über diesen Fall hinaus enthält das Urteil jedoch eine weitere klare Absage an den oft bemühten Begriff des „allgemeinen Lebensrisikos“ als haftungsbegrenzender Umstand. Um dies einzuordnen lohnt ein kurzer Blick auf die Systematik der reiserechtlichen Mängelhaftung: Ansprüche des Reisenden (soweit es nicht um Schadensersatz geht) sind unabhängig von einem Verschulden des Reiseveranstalters. Auch wenn weder Fahrlässigkeit noch Vorsatz wegen des Mangels vorliegen, haftet der Veranstalter und muss sich so eine Minderung des Reisepreises auch für Umstände außerhalb seiner Verantwortung gefallen lassen. Dies gilt auch bei den inzwischen hinreichend bekannten „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umständen“. Um die Haftung allerdings nicht uferlos werden zu lassen, behalf man sich der Begrenzung, dass ein Mangel nicht vorliege, wenn eine Beeinträchtigung lediglich eine Konkretisierung des allgemeinen Lebensrisikos sei. Der Sturz auf einer feuchten Stufe einer gereinigten Treppe, ein Überfall, schlechtes Wetter… all dies sei allgemeines Lebensrisiko und verpflichte den Veranstalter nicht zu einer Minderung, so deutsche Gerichte nahezu einstimmig. Gestritten wurde dann allenfalls über die Frage, ob es wirklich ein allgemeines Lebensrisiko war, oder das Risiko durch den Veranstalter oder seine Leute erhöht wurde.
Hierzu sagt der EuGH nun: der Begriff des allgemeinen Lebensrisikos spielt keine Rolle bei der Frage, ob eine Minderung zuerkannt werden muss. Es gibt nach dem EuGH letztlich nur eine Begrenzung: eine Minderung gibt es nicht, wenn die Vertragswidrigkeit dem Reisenden zuzurechnen ist.
Diese Absage an das allgemeine Lebensrisiko wird dazu führen, dass sich Veranstalter sehr genau überlegen müssen, wie sie den Leistungsumfang definieren; denn immerhin sagt der EuGH, der Veranstalter müsse nicht Mängel bei Leistungen ausgleichen, zu denen er sich nicht verpflichtet hat. Eine genauere Beschreibung und eine klare Abgrenzung, was Inhalt des Vertrages ist, wird also wohl erforderlich werden. Ob es allerdings sinnvoll ist, z.B. darauf hinzuweisen, dass die Sicherheit des Urlaubers vor Ort vor Überfällen nicht zum Leistungsinhalt der Pauschalreise gehört, ist eine ganz andere Frage.
Zum anderen wird sich wohl erst durch weitere Urteile des EuGH klären, ob der Gast einen Anspruch auf Minderung haben soll, wenn (so geschehen in einem bekannten Fall) ein Ziegenbock durch eine Mauerlücke auf das Hotelgrundstück gerät und einen Gast angreift (hierzu hatte das LG Frankfurt (2/21 O 60/99) entschieden, der Ziegenbock sei allgemeines Lebensrisiko und eine Mauerlücke kein Mangel). Hier bleibt abzuwarten, ob der EuGH den Begriff der „mit dem Pauschalreisevertrag zusammenhängenden und sich aus dem Ziel des Vertrages ergebenden Leistungen“ so einschränkend auslegt, dass er zu einer Begrenzung der ohnehin sehr weiten Haftung des Veranstalters führt.