Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte über Verfassungsbeschwerden gegen das Staatsanleihekaufprogramm (Public Sector Purchase Programme – PSPP) zu entscheiden. Als Ergebnis lässt sich festhalten: Die EZB muss nach Auffassung des Gerichts bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächlichen Wirkungen berücksichtigen und eine wertende Gesamtbetrachtung vornehmen. Dies muss die EZB in den nächsten Monaten nachholen, und Deutschland muss darauf drängen.
Das Ziel des aufgelegten Anleihekaufprogramms ist, durch die Ausweitung der Geldmenge den Konsum und Investitionen und zugleich die Inflation zu fördern. Die EZB erwirbt Staatsanleihen und ähnliche marktfähige Schuldtitel, die von der Zentralregierung eines Euro-Mitgliedstaats, „anerkannten Organen“, internationalen Organisationen und multilateralen Entwicklungsbanken mit Sitz im Euro-Währungsgebiet begeben werden. Das Anleihekaufprogramm ist Teil eines Rahmenprogramms zum Ankauf von Vermögenswerten und macht den größten Teil der Ankäufe aus.
Das Bundesverfassungsgericht kritisiert nicht nur die Europäische Zentralbank, sondern alle Beteiligten und vor allem die „Aufseher“. Der harscheste Vorwurf gilt der EZB: Die Europäische Zentralbank habe in den für die Einführung und Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüssen weder geprüft noch dargelegt, dass die hierbei getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig sind. Die deutschen Bundesorgane kommen nicht besser weg: Bundesregierung und Bundestag hätten die unterlassene Darlegung und Prüfung erkennen und dagegen vorgehen müssen. Dieser weitere, an die Bundesorgane gerichtete Vorwurf erlaubt es dem Bundesverfassungsgericht, einen Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG festzustellen.
Wie umgeht das Bundesverfassungsgericht das Urteil der Luxemburger Kollegen über die Beschlüsse des EZB-Rates betreffend das Programm und seine Änderungen? Das Gericht bleibt auf der Linie seiner bisherigen Rechtsprechung und verurteilt die EZB-Beschlüsse als Kompetenzüberschreitungen. Mit sehr deutlichen Worten wird dem EuGH vorgeworfen, bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächlichen Wirkungen außer Acht gelassen und auf eine wertende Gesamtbetrachtung verzichtet zu haben, und dies im Widerspruch zur methodischen Herangehensweise des Gerichtshofs in nahezu sämtlichen sonstigen Bereichen der Unionsrechtsordnung. Die Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sei für die Kompetenzverteilung zu beachten.
Mit dieser Bewertung eröffnet das BVerfG seine Zuständigkeit, d. h. sich wegen der beanstandeten Überschreitung der Kompetenz nicht an die Entscheidung des Gerichtshofs gebunden zu sehen. Das BVerfG stellt sich hier ein weiteres Mal gegen den EuGH auf und bejaht erstmals eine Kompetenzüberschreitung. Einerseits ist das Wasser auf die Mühlen des deutschen Publikums und der Kritiker der EZB. Andererseits fehlt dem Urteil – ungeachtet der Wortwahl, die eher verletzend ist - jede Schärfe, denn es erlaubt die Anleiheprogramme unter der Voraussetzung der sauberen Prüfung ihrer Verhältnismäßigkeit. Insofern gibt das Gericht den Organen allein einen Handlungsauftrag, und die nachbessernden Beschlüsse der EZB unterliegen zunächst wieder der Nachprüfung durch den EuGH.
Für die aktuelle Diskussion, mit welchen Mitteln die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie zu mildern sind, kann man das Urteil als Weckruf verstehen. Jedoch ist zu bezweifeln, dass sich Politiker und Wirtschaftswissenschaftler in diesen Zeiten über die Mittel einig werden und die Verhältnismäßigkeit der Mittel überzeugend prüfen und darstellen können; dies gilt für Deutschland ebenso wie für die Europäische Union.