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    10.07.2024

    Die überarbeitete Bekanntmachung der Europäischen Kommission zum relevanten Markt in der Praxis


    Die Marktabgrenzung ist Bestandteil jeder kartellrechtlichen Beurteilung. Sie ist ein wesentliches Instrument, um die Grenzen des Wettbewerbs zu definieren: Wer konkurriert mit wem? Wie groß ist die Marktmacht eines Unternehmens? Werden die fusionierenden Unternehmen in Zukunft ausreichendem Wettbewerbsdruck ausgesetzt sein?

    Die erste Überarbeitung der Bekanntmachung der Europäischen Kommission über die Abgrenzung des relevanten Marktes seit mehr als 25 Jahren war daher nicht nur von Wettbewerbsrechtlern mit Spannung erwartet worden. Die Kommission hat sie schließlich am 22. Februar 2024 veröffentlicht. Im Folgenden stellen wir sowohl die überarbeitete Bekanntmachung der Kommission als auch die allerersten Anwendungsfälle der französischen Wettbewerbsbehörde, des Europäischen Gerichtshofs und der Kommission selbst vor.

    Die Bibel der Marktabgrenzung

    Die überarbeitete Bekanntmachung zum relevanten Markt mag den Eindruck erwecken, es handele sich um ein bescheidenes Verwaltungsdokument der Europäischen Kommission – doch in Wirklichkeit ist sie die Bibel der Marktabgrenzung in ganz Europa. Die ursprüngliche Bekanntmachung war seit ihrer Veröffentlichung im Jahr 1997 ein Bezugspunkt für Behörden und Gerichte sowohl auf EU-Ebene als auch auf nationaler Ebene. Die überarbeitete Bekanntmachung ist das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden in der EU und berücksichtigt auch die Beiträge weiterer Interessengruppen.

    Evolution, nicht Revolution

    Es ist daher nicht verwunderlich, dass die französische Wettbewerbsbehörde die überarbeitete Bekanntmachung zum relevanten Markt bereits weniger als drei Monate nach ihrer Veröffentlichung verwendete, als sie am 21. Mai 2024 eine Kartellbußgeldentscheidung gegen elf Unternehmen erließ. Mit Blick auf die betroffenen Betonfertigteile erinnert die Behörde daran, dass der sachlich relevante Markt alle Produkte umfasst, die die Kunden als austauschbar oder substituierbar ansehen, und dass der räumlich relevante Markt das geografische Gebiet umfasst, in dem unter anderem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind. Diese Grundprinzipien bleiben in der überarbeiteten Bekanntmachung im Vergleich zur vorherigen Bekanntmachung weitgehend unverändert.

    Der Preis ist nicht alles

    Es gibt jedoch auch wesentliche Änderungen im Vergleich zur vorherigen Fassung. Eine dieser Änderungen besteht darin, dass die Kommission bei der Definition des relevanten Produktmarktes "außerökonomische" Wettbewerbsparameter anerkennt. Dies ist eine echte Neuerung im Vergleich zur vorherigen Bekanntmachung, die sich bei der Marktabgrenzung auf den Preis konzentrierte. Nach der überarbeiteten Bekanntmachung zum relevanten Markt betrachtet die Kommission nichtpreisliche Parameter wie den Innovationsgrad des Produkts, seine Qualität, das von ihm vermittelte Image oder sogar seine Nachhaltigkeit als relevante Parameter für die Marktabgrenzung. Die überarbeitete Bekanntmachung beschränkt sich jedoch nicht nur auf Klarstellungen zu den Konzepten der vorherigen Fassung der Bekanntmachung, sondern enthält auch zusätzliche Hinweise zu bestimmten Arten von Märkten:

    Neue Werkzeuge für neue Märkte: Pipeline-Produkte

    Die Kommission stellt fest, dass Innovationen und die damit verbundenen F&E-Investitionen in vielen Sektoren, z. B. in der Digital- und in der Pharmaindustrie, zu einem zentralen Wettbewerbsparameter geworden sind. Um neue Produktmärkte bereits vor der Vermarktung der Produkte zu erfassen, behält sich die Kommission nun das Recht vor, Pipeline-Produkte in ihre wettbewerbsrechtliche Würdigung eines neuen oder bereits bestehenden Produktmarktes einzubeziehen. Diese Auffassung hat erhebliche Folgen, insbesondere für die Fusionskontrolle, da die fusionierenden Unternehmen noch stärker als bislang laufende Entwicklungsprojekte als potenzielle Substitute bestehender Produkte berücksichtigen müssen.

    Neue Werkzeuge für neue Märkte: Mehrseitige Plattformen

    Die überarbeitete Bekanntmachung zum relevanten Markt befasst sich auch mit mehrseitigen Plattformen (z. B. Online-Marktplätze und soziale Medien), bei denen die Nachfrage einer Nutzergruppe die Nachfrage einer oder mehrerer anderer Gruppen (z. B. Käufer, Werbetreibende) beeinflussen kann, so genannte "indirekte Netzwerkeffekte". Die überarbeitete Bekanntmachung enthält insofern neue Leitlinien, die ausdrücklich feststellen, dass mehrseitige Märkte je nach Sachlage entweder als Ganzes, d. h. unter Einbeziehung der verschiedenen betroffenen Nutzergruppen, oder als separate Märkte definiert werden können.

    Diese Grundsätze der überarbeiteten Bekanntmachung wurden von Generalanwalt Collins in seinen Schlussanträgen vom 6. Juni 2024 bei der Abgrenzung des Marktes, auf dem Booking.com tätig ist, herangezogen. In seinen Schlussanträgen betrachtet er Booking.com als Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten für Hotels und geht damit von getrennten Märkten für die beiden Seiten des Marktes aus.

    Neue Werkzeuge für neue Märkte: Ökosysteme

    Die Kommission erkennt auch die Besonderheiten von Anschlussmärkten, Produktbündeln und digitalen Ökosystemen an, bei denen der Konsum eines Primärprodukts zum Konsum eines Sekundärprodukts führt. Gemäß der überarbeiteten Bekanntmachung zum relevanten Markt ist es angemessen, diese Märkte entweder als einen einzigen Markt zu definieren, der Primär- und Sekundärprodukte umfasst, oder als getrennte Märkte.

    Die Kommission hat diese Regeln angewandt, als sie am 25. März 2024 die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens für "smart farming"-Produkte genehmigte. Die Untersuchung der Kommission ergab eine erhebliche Substituierbarkeit zwischen den einzelnen Produkten (Displays, Receiver usw.) einerseits und den Steuersystemen insgesamt andererseits. Die einzelnen Komponenten können nämlich leicht zu einem kombinierten System zusammengefügt werden; auch sind mehrere Integratoren in diesem Bereich tätig. Die Kommission ist daher von einem einheitlichen Systemmarkt ausgegangen.

    Neue Marktanteils-Benchmarks

    Ein weiterer wichtiger Beitrag der überarbeiteten Bekanntmachung zum relevanten Markt ist die von der Europäischen Kommission ausdrücklich anerkannte Möglichkeit, die Marktanteile von Unternehmen auf der Grundlage anderer Messgrößen als ihrer Umsatzerlöse oder Absatzmengen zu berechnen. Von nun an kann die Kommission auch Benchmarks wie die Anzahl der Anbieter, die Anzahl der Besuche/Abrufe/Downloads oder sogar die F&E-Ausgaben zur Messung der Marktanteile von Unternehmen heranziehen. Diese zusätzliche Flexibilität ist besonders für den digitalen Sektor, den Pharmasektor und neu entstehende Märkte im Allgemeinen von Bedeutung.

    Schlussfolgerungen

    Die überarbeitete Bekanntmachung trägt dem gesellschaftlichen Wandel durch die Digitalisierung und der zunehmenden Bedeutung von Nachhaltigkeitsfaktoren Rechnung. Darüber hinaus können wir die Hinweise der Kommission zur Abgrenzung des relevanten Marktes in Situationen wie zweiseitigen Märkten oder Produktbündeln nur begrüßen. Die ersten Anwendungsfälle der überarbeiteten Bekanntmachung zeigen bereits, dass ihre Neuerungen für die Entscheidungspraxis der Wettbewerbsbehörden von großer Bedeutung sind.

    Ein Punkt wirft jedoch Bedenken hinsichtlich der Rechtssicherheit auf: Die Kommission betont in ihrer überarbeiteten Bekanntmachung, dass sie nicht an ihre Präzedenzfälle gebunden sein wird. Diese Aussage weckt die Befürchtung, dass die Kommission frühere Marktdefinitionen in Abhängigkeit von angeblichen Marktentwicklungen oder dem jeweiligen Wettbewerbsparameter außer Kraft setzen könnte. Dadurch wird die zusätzliche Rechtssicherheit, die durch eine Definition der relevanten Märkte geschaffen werden sollte, in gefährlicher Weise beeinträchtigt.

    Dennoch verspricht die überarbeitete Bekanntmachung über die Marktdefinition ein Meilenstein in der Entwicklung des EU-Wettbewerbsrechts in den kommenden Jahren zu werden. Sie verdient es daher, sorgfältig analysiert zu werden.

    Christoph Heinrich
    Lucie Giret (ADVANT Altana)
    Francesco Mazzocchi (ADVANT Nctm)

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