Bundesarbeitsgericht vom 16. Mai 2019 - 6 AZR 329/18
Schwerbehinderte haben das gesetzlich verbriefte Recht, dass ihr Arbeitsverhältnis entsprechend ihrer gesundheitlichen Situation durchgeführt wird. Dieser Anspruch besteht aber nur insoweit, als dies für den Arbeitgeber zumutbar ist. Eine Beschäftigungsgarantie ergibt sich hieraus jedoch gerade nicht.
Die Parteien stritten um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung. Der Kläger ist schwerbehindert und war seit 1982 bei der beklagten Arbeitgeberin, einer Gießerei, mit Hilfstätigkeiten beschäftigt. Über das Vermögen der Gießerei wurde 2016 das Insolvenzverfahren eröffnet und Eigenverwaltung angeordnet. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis betriebsbedingt, nachdem sie mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste geschlossen hatte, auf der auch der Kläger aufgeführt war, dessen Arbeitsplatz wegen einer Organisationsänderung entfallen sollte. Die vom Kläger zuvor verrichteten Hilfstätigkeiten wurden von den verbliebenen Fachkräften übernommen; andere Tätigkeiten konnte er nicht ausüben. Der Kläger hielt die Kündigung für unwirksam und berief sich auf seinen tariflichen Sonderkündigungsschutz sowie auf den Beschäftigungsanspruch aus § 164 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX); letzterer stehe einer Umverteilung seiner Tätigkeiten auf andere Arbeitskräfte entgegen.
Nachdem die Vorinstanzen die Kündigungsschutzklage bereits abgewiesen hatten, entschied auch das BAG in diesem Sinn. Die Kündigung hatte das Arbeitsverhältnis laut BAG beendet. Der klagende Arbeitnehmer könne sich nicht auf den tariflichen Sonderkündigungsschutz berufen, da diesem § 113 Satz 1 Insolvenzordnung entgegenstehe. Danach kann ein Dienstverhältnis, bei dem der Insolvenzschuldner der Dienstberechtigte ist, ohne Rücksicht auf eine vereinbarte Vertragsdauer oder einen vereinbarten Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung beendet werden. Verfassungsrechtliche Bedenken bestünden hiergegen nicht. Auch auf den Beschäftigungsanspruch aus § 164 Abs. 4 SGB IX könne sich der Kläger nicht stützen. Dieser Anspruch greife nur bei der Prüfung einer geeigneten Weiterbeschäftigungsmöglichkeit auf einem anderen, freien Arbeitsplatz, den es vorliegend nicht gegeben habe. Der Anspruch gebe dem Schwerbehinderten gerade keine Beschäftigungsgarantie. Die Arbeitgeberin sei nicht verpflichtet gewesen, für den schwerbehinderten Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz zu schaffen oder zu erhalten, den sie nach ihrem Organisationskonzept nicht mehr benötigte. Die unternehmerischen Entscheidungs- und Organisationsfreiheit gehe insofern vor.
Das BAG stellt klar, dass der besondere Beschäftigungsanspruch nach § 164 Abs. 4 SGB IX nicht grenzenlos und absolut besteht und es insoweit keine Garantie auf Beschäftigung gibt. Zwar hat das BAG bereits entschieden, dass ein Arbeitgeber nach dieser Vorschrift dazu verpflichtet sein kann, eine geplante Umstrukturierung zu unterlassen oder eine bereits durchgeführte Umstrukturierung ganz oder teilweise rückgängig zu machen (vom 14. März 2006 - 9 AZR 411/05). In diesem Fall führte die Entscheidung des Arbeitgebers allerdings nicht dazu, dass der Arbeitsplatz entfiel, sondern dass der schwerbehinderte Arbeitnehmer seine Tätigkeiten auf diesem Arbeitsplatz nicht mehr durchführen konnte. Der Anspruch setzt also, wie das BAG jetzt entschieden hat, einen bestehenden Arbeitsplatz voraus. Es verfestigt damit auch seine Rechtsprechung, dass § 164 Abs. 4 SGB IX keinen Anspruch auf Einrichtung eines Arbeitsplatzes gibt (vom 28. April 1998 - 9 AZR 348/97 und vom 10. Mai 2005 - 9 AZR 230/04). Dies entspricht auch dem Zweck des Anspruchs, nämlich einen behinderungsgerechten Zugang zu einer Beschäftigung zu ermöglichen und nicht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes zu schützen. Insolvenzrechtlich ist begrüßenswert, dass das BAG in dieser Entscheidung auch klarstellt, dass die Schwerbehinderung gemäß § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO nicht bei der Sozialauswahl berücksichtigt werden muss und ein etwaiger tariflicher Sonderkündigungsschutz gemäß § 113 S. 1 InsO bei der Kündigung durch den Insolvenzverwalter nicht greift.
Arbeitgebern ist nach dieser Entscheidung zu empfehlen, bei Kündigungen von Schwerbehinderten, z.B. auch im Rahmen von Massenentlassungen, ein gut ausgearbeitetes Konzept vorzuweisen, mit dem die Umverteilung der Aufgaben auf die übrigen Arbeitnehmer nachgewiesen werden kann. Dies reicht nach dieser Entscheidung als Nachweis für den Wegfall des Arbeitsplatzes des Schwerbehinderten aus.
Wenn Sie Fragen zu diesem Thema haben, wenden Sie sich bitte an Dr. Sarah Reinhardt und Jasmin Onderscheka.