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    08.05.2025

    Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist kein Freifahrtschein


    Selbst wenn ein (ausländischer) Arzt eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt, kann der Arbeitgeber Zweifel geltend machen und den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ("AU") derart erschüttern, dass der Arbeitnehmer weitere Belege für seine Arbeitsunfähigkeit vorbringen muss (BAG, Urteil vom 15.01.2025 – 5 AZR 284/24)

    Dem Urteil lag die Klage eines Arbeitnehmers zugrunde, der Entgeltfortzahlung für 24 Tage begehrte. Der sich in Tunesien befindliche Arbeitnehmer legt seinem Arbeitgeber kurz vor Ende seines Urlaubs ein ärztliches Attest eines tunesischen Arztes vor. Der Arzt attestierte eine über den Urlaub hinausgehende Arbeitsunfähigkeit. Erst etwa 3 Wochen nach Ende des Urlaubs legte der Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber eine AU eines deutschen Arztes vor. Der Arbeitgeber bezweifelte die Arbeitsunfähigkeit, die durch den tunesischen Arzt attestiert wurde und weigerte sich entsprechende Entgeltfortzahlung zu leisten.

    Nachdem das Landesarbeitsgericht (LAG) München dem Arbeitnehmer Recht gab und ihm unter Bezugnahme auf die tunesische AU die Entgeltfortzahlung zusprach, folgte das BAG dem Arbeitgeber und sah den Beweiswert des Attests im vorliegenden Fall als erschüttert an. 

    Grundsätzlich führt die AU grundsätzlich den Beweis einer die Entgeltfortzahlung auslösenden Krankheit. Die Erstellung einer AU durch einen ausländischen Arzt beschränkt den Beweiswert nicht automatisch.  Der Beweiswert der AU ist jedoch nicht unantastbar. Der Beweis der AU kann nicht erst durch Gegenbeweis, d.h. den Beweis der Gesundheit des Arbeitnehmers erschüttert werden. Vielmehr genügt für die Nicht-Leistung der Entgeltfortzahlung bereits die Erschütterung des Beweiswertes der AU. Der Beweiswert kann durch das Vorbringen ernster Zweifel, basierend auf einer Gesamtbetrachtung aller Umstände erfolgen. Wichtig ist hierbei, dass bei der Gesamtbetrachtung nicht nur einzelne Aspekte für sich genommen betrachtet werden, sondern alle Umstände des Einzelfalls in ein Gesamtverhältnis zueinander gesetzt werden. Nur so ist es möglich, ein zutreffendes Bild von den konkreten Umständen des Einzelfalles zu verschaffen.

    Zwar erfüllte die tunesische AU hier die inhaltlichen Anforderungen, in dem sie eine Arbeitsunfähigkeit feststellte und ein plausibles Krankheitsbild geschildert wurde.  Jedoch war der Beweiswert der AU aufgrund der Gesamtumstände als erschüttert anzusehen: Zum einen war der Arbeitnehmer in der Vergangenheit bereits vier Mal am Ende seines Urlaubs überraschend erkrank. Hinzu kam, dass der Arbeitnehmer sein Rückreiseticket am Tag nach Erhalt der AU buchte und sich in der Lage sah, die 30-stündige Rückreise mit Umstieg bereits vor Ablauf der Bescheinigten Arbeitsunfähigkeit anzutreten. Diese lange Reise wurde als genesungswidriges Verhalten gewertet, was ebenfalls zulasten des Arbeitnehmers ausgelegt wurde. Zuletzt argumentierte das BAG auch anhand der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses beim Bundesministerium für Gesundheit, wonach eine Arbeitsunfähigkeit regelmäßig nur für die Dauer von maximal zwei Wochen am Stück zu bescheinigen ist. Darüberhinausgehende Zeiträume – wie hier von 24 Tagen – sind nur bei besonderer Veranlassung zulässig. In diesem Zusammenhang wurde auch zum Nachteil des Arbeitnehmers gereicht, dass während der 24 Tage keine Nachuntersuchungen erfolgte, die mit einer Folgebescheinigung einhergehen würden. 

    Die AU des deutschen Arztes vom 04.10.2022 blieb bei der Gesamtbetrachtung unberücksichtigt, da sie in keine Aussagen zur vorherigen 24tätigen Erkrankung beinhaltete und im Übrigen als Erstbescheinigung keine rückblickende Betrachtung ermöglichte. 

    Aus der Entscheidung folgt, dass nicht aus jeder AU zwingend ein Entgeltfortzahlungsanspruch erwächst. Hat der Arbeitgeber berechtigte Zweifel am Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit – insbesondere im zeitlichen Zusammenhang mit einem Urlaub, aufgrund langer Bescheinigungszeiträume oder fehlender Zwischenuntersuchungen – kann der Beweiswert der AU erschüttert und die Entgeltfortzahlung berechtigterweise eingestellt werden. Insoweit ist Arbeitgebern zu raten, ihre Zweifel zu äußern und ggf. die Entgeltfortzahlung einzustellen. Es liegt dann am Arbeitnehmer, den notwendigen Beweis für eine Arbeitsunfähigkeit zu erbringen.  

    Virginia Mäurer

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