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Brandaktuell vom BAG zur Vergütung von Überstunden - gebilligt, geduldet oder betrieblich erforderlich? – Erfreuliche Nachrichten für Arbeitgeber

Eine äußert praxisrelevante Entscheidung zur Vergütung von Überstunden hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) am 4. Mai 2022 verkündet. Das Urteil befasst sich mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung einer Arbeitszeiterfassung und unterscheidet klar zwischen Arbeitszeit im Sinne des Gesundheitsschutzes und Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinn.

Sachverhalt

Der Arbeitnehmer war als Auslieferungsfahrer bei einem Einzelhandelsunternehmen tätig. Seine Arbeitszeit wurde mittels einer technischen Aufzeichnung erfasst. Beginn und Ende der Arbeitszeit wurden festgehalten, Pausenzeiten jedoch nicht. Am Ende des Arbeitsverhältnisses verlangte der Kläger Überstundenvergütung für mehrere Hundert Stunden. Dabei behauptete er, er habe die gesamte (technisch) aufgezeichnete Zeit gearbeitet. Pausen hätte er ohnehin nicht nehmen können, weil sonst seine Lieferung nicht hätte abgearbeitet werden können. Der Arbeitgeber bestritt die Überstunden. In einer vielbeachteten (und kontrovers diskutierten) Entscheidung hatte das Arbeitsgericht Emden (ArbG) der Klage erstinstanzlich stattgegeben. Aus Sicht des ArbG folgte die Zahlungspflicht des Arbeitgebers aus dem Urteil des Gerichtshofs der EuGH vom 14. Mai 2019 - C-55/18 - [CCOO]: Nach dieser - als „Stechuhrurteil“ bekannt gewordenen - Entscheidung, müssen die EU-Mitgliedstaaten Arbeitgeber verpflichten, ein umfassendes Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen. Daraus leitete das ArbG eine unmittelbare Verpflichtung des Arbeitgebers zur Messung, Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten der Arbeitnehmer ab. Verstöße des Arbeitgebers gegen diese Verpflichtung sollten zu einer Beweislastumkehr führen: Hat der Arbeitgeber kein vernünftiges Zeiterfassungssystem und kontrolliert die Zeiten nicht im Sinne der EuGH-Rechtsprechung, müssen Arbeitnehmer nur die Zahl der Überstunden schlüssig vortragen. Der Arbeitgeber müsse dann im Gegenzug beweisen, dass die Überstunden nicht geleistet wurden oder nicht erforderlich waren. Damit hatte das ArbG die ständige Rechtsprechung des BAG zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast bei Überstunden kurzerhand beiseite gewischt.

Das Landesarbeitsgericht Niedersachen (LAG) konnte der Begründung aus Emden wenig abgewinnen und hat die Klage grundsätzlich abgewiesen. Nach Ansicht des LAG ergeben sich aus dem Stechuhrurteil keine Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess. Wer Überstunden einklagt, ist darlegungs- und beweisbelastet, und zwar für die geleisteten Stunden und deren Notwendigkeit.

Die Entscheidung

Vor dem BAG hatte der Arbeitnehmer ebenfalls keinen Erfolg. Auch das BAG ist der Ansicht, dass sich an den Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast durch die Rechtsprechung des EuGH im Stechuhrurteil nichts ändert. Die zentrale Erkenntnis: Eine unionsrechtlich begründete Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit dient dem Gesundheitsschutz und hat damit keine Auswirkung auf die Grundsätze über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess nach deutschem Recht. Seiner Darlegungs- und Beweislast wurde der Arbeitnehmer nicht gerecht, daher gab es kein Geld für die angeblichen Überstunden.

Konsequenzen für die Praxis

Das Urteil ist Grund für Erleichterung in vielen Unternehmen. Das BAG hat nach der Entscheidung aus Emden, die für viel Aufsehen in der arbeitsrechtlichen Praxis gesorgt hatte, eine wichtige Grundsatzentscheidung gefällt. Überstundenprozesse gibt es oft, Rechtsprechung zur Genüge. Es bleibt alles wie gehabt: Der Arbeitnehmer muss darlegen, wann er welche Überstunden geleistet haben will. Dabei muss er auch zeigen, welche Arbeiten er geleistet hat und dass die Leistung der Überstunden vom Arbeitgeber angeordnet wurde oder bekannt war und von ihm gebilligt worden ist. Von diesen Grundsätzen unter Bezugnahme auf die EuGH-Rechtsprechung abzuweichen, verlangte wirklich eine ausgeprägte Auslegungsakrobatik. Diesem Sonderweg aus Emden hat das BAG glücklicherweise eine deutliche Absage erteilt.

Praxistipps

Arbeitgeber, die mit Klagen auf Vergütung von Überstunden konfrontiert sind, müssen genau prüfen, ob die Klage den Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast gerecht wird. Mängel in der Klageschrift sind unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BAG herauszuarbeiten, um sich effektiv verteidigen zu können. Unternehmen müssen zudem dafür sorgen, dass sie durch ihr Verhalten keine Anzeichen für die (stillschweigende) Duldung von Überstunden schaffen oder dass Führungskräfte nicht vorschnell Überstunden „abzeichnen“. Spannend bleibt (mindestens bis zum Vorliegen der vollständigen Urteilsbegründung) die Frage, wie sich das BAG grundsätzlich zur Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit als Bestanteil des Arbeitsschutzes positioniert: Geht das BAG heute schon von einer bestehenden Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit aus oder braucht es aus Sicht des BAG noch einen Umsetzungsakt des deutschen Gesetzgebers?

Martin Biebl

Zur besseren Lesbarkeit wird in dem vorliegenden Beitrag auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Es wird das generische Maskulin verwendet, wobei alle Geschlechter gleichermaßen gemeint sind.

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Überstunden Überstundenregelung Arbeitszeiterfassung Darlegungs- und Beweislast