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Nun sag, wie hältst du's mit dem Mindestlohn?

Diese Gretchenfrage ist dem Insolvenzrechtssenat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) am 25. Mai 2022 einmal mehr gestellt und diesmal eindeutig beantwortet worden (6 AZR 497/21). Hintergrund war die Anfechtungsklage eines Insolvenzverwalters gegenüber einer Arbeitnehmerin des insolventen Arbeitgebers. Der Insolvenzverwalter war als solcher für die Verwaltung und Verfügung über das Vermögen des insolventen Arbeitgebers eingesetzt. Zu den Aufgaben eines/einer Insolvenzverwalter:in gehört es auch, vorinsolvenzliche Zahlungsflüsse auf Rechtmäßigkeit zu kontrollieren und bei Auffälligkeiten Rückzahlung zur Insolvenzmasse geltend zu machen.

Es ist bekannt, dass Insolvenzverwalter:innen vorinsolvenzliche Zahlungen „anfechten“, d.h. zurückfordern können. Das gilt auch gegenüber Arbeitnehmer:innen.

Allerdings sind Gehaltszahlungen nur in bestimmten Fällen anfechtbar. Zahlt der Arbeitgeber das Entgelt spätestens drei Monate nach der Arbeitsleistung, liegt in der Regel ein anfechtungsfestes Bargeschäft vor (§ 142 Abs. 2 Satz 2 Insolvenzordnung, InsO). Gefährlich wird es für Arbeitnehmer:innen, wenn Arbeitsentgelt länger als drei Monate rückständig war oder sie die Zahlung auf einem anderen Weg erlangen als im Arbeitsvertrag vorgesehen (z.B. durch Zwangsvollstreckung oder Drohung mit einem Insolvenzantrag). Letzteres nennt man eine „inkongruente Deckung“. Vor allem in diesen Fällen können die Arbeitnehmer:innen verpflichtet sein, ihr Arbeitsentgelt zurückzuzahlen.

Gilt das für das gesamte Arbeitsentgelt? Das ist genau die Frage, denn die Rechtsprechung und Literatur diskutieren seit einigen Jahren über eine aus dem verfassungsrechtlichen Existenzminimum abgeleitete Anfechtungssperre. Der 6. Senat des BAG lehnt eine solche Anfechtungssperre für inkongruente Deckungen in ständiger Rechtsprechung ab. Ob das auch für kongruente Deckungen gilt, war bislang offen.

Worüber hatte das BAG zu entscheiden?

Die beklagte Arbeitnehmerin hatte am 25. August und 26. September 2016 ihr Gehalt für den jeweiligen Monat erhalten. Der zu diesem Zeitpunkt bereits zahlungsunfähige Arbeitgeber hatte diese und andere Zahlungen über das Konto seiner Mutter ausführen lassen, das er zu diesem Zweck mit Mitteln ausgestattet hatte. Am 12. Oktober musste er Insolvenz beantragen. Nach Insolvenzeröffnung am 1. Dezember 2016 erklärte der Insolvenzverwalter die Anfechtung und forderte die Zahlungen zurück.

Das Landesarbeitsgericht (LAG) gab ihm zwar Recht, hat der Klage aber nur in der den gesetzlichen Mindestlohn übersteigenden Höhe stattgegeben. Den Mindestlohn sollte die Arbeitnehmerin behalten dürfen.

Wie hat das BAG entschieden?

Der 6. Senat des BAG hob das Urteil des LAG auf und sprach dem Insolvenzverwalter einen Anspruch auf Rückzahlung der gesamten am 25. August und 26. September 2016 gezahlten Beträge einschließlich des darin enthaltenen Mindestlohns zu. Auch wenn die Arbeitnehmerin die Zahlung gar nicht vom Schuldner selbst, sondern seiner Mutter erhalten habe, liege darin eine Gläubigerbenachteiligung. Der Schuldner habe seiner Mutter das für die Zahlungen erforderlich Geld nämlich vorab zur Verfügung gestellt (sog. mittelbare Zuwendung). Weil sich der Entgeltanspruch der Beklagten gegen den Schuldner als ihren Arbeitgeber richtete, habe es sich bei der Zahlung der Mutter um eine inkongruente und damit gemäß § 131 Abs. 1 InsO anfechtbare Deckung gehandelt.

Der verfassungsgemäße Schutz des Existenzminimums erfordere keine Einschränkung des Anfechtungsanspruchs, sondern sei bereits durch die Pfändungsschutzbestimmungen der Zivilprozessordnung und das Sozialrecht ausreichend gewährleistet. Eine Einschränkung der Anfechtbarkeit oder einen gesonderten Vollstreckungsschutz habe der Gesetzgeber nicht vorgesehen. Der insolvenzrechtliche Rückgewähranspruch beziehe sich damit auch auf den gesetzlichen Mindestlohn. Die Rechtswirkungen des Mindestlohngesetzes endeten mit der Zahlung durch den Arbeitgeber.

... und was ist daran neu?

Die Entscheidung als solche dürfte keinen wirklich überrascht haben. Dass sich aus dem verfassungsrechtlichen Existenzminimum bei inkongruent ausgezahlten Arbeitsentgelten keine Anfechtungssperre ergibt, entspricht der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung. Das Besondere der Entscheidung liegt darin, dass sie erstmals Hinweise darauf enthält, wie das Gericht im Parallelfall einer kongruenten Deckung entscheiden würde.

Es ist kein Zufall, dass das BAG bislang nur über die Anfechtung inkongruenter Entgeltzahlungen urteilen musste. Die Voraussetzungen für die Anfechtbarkeit einer kongruenten Deckung sind nämlich enger, kommen daher seltener vor. In diesen Fällen müssen Arbeitnehmer:innen um die Zahlungsunfähigkeit oder Zahlungseinstellung des Arbeitgebers gewusst haben (§§ 17, 130, 133 Abs. 3 InsO). Das ist bei Mitarbeiter:innen in der Finanzbuchhaltung oder leitenden kaufmännischen Angestellten aber durchaus denkbar.

Wer die Rechtsprechung zur Relevanz des Mindestlohns bei der Anfechtung von Arbeitsentgelt seit 2014 verfolgt hat, musste sich fragen, warum es gerade die Inkongruenz ist, die den verfassungsmäßigen Schutz des Existenzminimums zurücktreten lässt. Die aktuellen Entscheidungsgründe enthalten nun, wie wir meinen, deutliche Hinweise darauf, dass das BAG in der Kongruenz oder Inkongruenz tatsächlich keinen wesentlichen Unterschied sieht.

Der Senat hatte das Konzept einer am Existenzminimum ausgerichtete Anfechtungssperre in seinem lesenswerten Urteil vom 29. Januar 2014, Az. 6 AZR 345/12, zwar selbst in die Welt gesetzt. Nachdem einige Untergerichte (wie die beiden Vorinstanzen) diesen Gedanken aufgenommen und entsprechend judiziert hatten, teilt derselbe Senat jetzt mit, dass es sich dabei nur um eine „Aufforderung zur Diskussion“ gehandelt hätte und man an den Überlegungen nach Prüfung der vorgebrachten Argumente nicht festhalte. Sollten sich Arbeitsrichter:innen oder Landesarbeitsrichter:innen hiervon verschaukelt fühlen, werden sie das vornehm für sich behalten. Das Ergebnis dieser missglückten Rechtsfortbildung ist zumindest klar:

Das Gericht stellt fest, dass der existenzielle Schutz der Arbeitnehmer:innen nicht durch eine Beschränkung der Insolvenzanfechtung, sondern durch das Sozialrecht zu gewährleisten sei. Dieser Schutz werde durch die Pfändungsschutzbestimmungen der Zivilprozessordnung und das Sozialrecht gewährleistet, weshalb eine grundsätzliche Einschränkung der Insolvenzanfechtung verfassungsrechtlich nicht geboten sei. Soweit das Insolvenzgeld in den Anfechtungsfällen an der 2-Monats-Frist des § 324 Abs. 3 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch scheitern, wäre diese Frist und nicht das Insolvenzanfechtungsrecht einzuschränken. Alles andere stünde im Widerspruch zu der auf Gläubigergleichbehandlung ausgerichteten Konzeption der Insolvenzordnung und den Schutzmechanismen des Sozialrechts. Die Existenzsicherung eine:r Gläubiger:in obliege nun einmal nicht der Gläubiger, sondern der Solidargemeinschaft. Alles andere bliebe dem Gesetzgeber vorbehalten. Diese Begründung gilt gleichermaßen für die Kongruenz- und Inkongruenzanfechtung.

Auch der vom Gericht selbst stammende Leitsatz bezieht sich nicht mehr, wie die vorangegangenen Entscheidungen, auf einzelne Anfechtungstatbestände oder -umstände, sondern lautet ganz einfach: „Die Insolvenzanfechtung von Arbeitsentgelt umfasst auch den auf den gesetzlichen Mindestlohn entfallenden Bestandteil.“ Das sollte an Hinweisen dann wohl genügen.

Ausblick

Ob man der Feststellung, dass „das verfassungsrechtlich gebotene Existenzminium … ungeachtet der Anfechtung gesichert“ sei, nun zustimmt oder nicht. Mit der aktuellen Entscheidung steht jedenfalls fest, dass das BAG von der Verortung der Mindestlohnproblematik im Insolvenzanfechtungsrecht nicht (mehr) viel hält. Nachdem die besprochene Entscheidung wiederum eine Inkongruenzanfechtung betraf, wird sich kaum vermeiden lassen, dass die o.a. Grundsätze demnächst „offiziell“ in einem Rechtsstreit bestätigt werden, in dem es um eine Anfechtung wegen kongruenter Deckung geht. Wie das BAG dann entscheiden wird, hat es mit dem Urteil vom 25. Mai 2022 aber schon angedeutet.

Die Gläubigergemeinschaft eines Insolvenzverfahrens ist nun einmal nicht zur Abfederung sozialer Härten aus der Insolvenzanfechtung oder der Geltendmachung anderer massezugehöriger Ansprüche zuständig, sondern besteht ihrerseits aus geschädigten Gläubiger:innen.

Frank Primozic
Maike Pflästerer

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Mindestlohn Insolvenz Insolvenzanfechtung Rückgewähranspruch

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