Hamburg, 11. Februar 2022 – Das Bundesverfassungsgericht hat mit einer heute verkündeten Entscheidung die Verfahrensgrundrechte der Presse in einstweiligen Verfügungsverfahren erheblich gestärkt. Unser Hamburger Partner Marc-Oliver Srocke hatte zuvor eine Verfassungsbeschwerde für den SPIEGEL-Verlag erhoben, der nun stattgeben wurde. Die Karlsruher Richter entschieden dabei antragsgemäß, dass eine einstweilige Verfügung des Oberlandesgerichts Hamburg vom 1. Oktober 2019 auf verfassungswidrige Weise zustande gekommen war und den SPIEGEL-Verlag in seinem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit verletzt hat. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist wegweisend für alle presserechtlichen gerichtlichen Auseinandersetzungen und stärkt die Position der Presse- und Medienhäuser in einstweiligen Verfügungsverfahren entscheidend.
Der SPIEGEL veröffentlichte auf seiner Internetseite ein Interview, in dem die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens kritisiert wurde. Die Antragstellerin stellte daraufhin beim Landgericht Hamburg nach erfolgloser Abmahnung einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Unterlassungsverfügung. Der begehrte Unterlassungstenor entsprach der zuvor außergerichtlich geforderten Unterlassungserklärung. Nachdem das Gericht dem Anwalt der Antragstellerin telefonisch mitteilte, dass die Anträge nach vorläufiger Beratung keine Aussicht auf Erfolg hätten, formulierte die Antragstellerin ihren ursprünglich gestellten Antrag um und ergänzte zwei Hilfsanträge. Das Landgericht wies den Antrag auch in seiner nachgebesserten Form durch Beschluss zurück. Im Verfahren der sofortigen Beschwerde wies ein Richter des Pressesenats des Oberlandesgerichts Hamburg den Anwalt der Antragstellerin telefonisch darauf hin, dass man nur einem bestimmten Antrag stattgeben werde. Die Antragstellerin nahm die übrigen Anträge daraufhin zurück. Das Oberlandesgericht erließ anschließend eine einstweilige Unterlassungsverfügung „der Dringlichkeit wegen ohne mündliche Verhandlung“ gegen den SPIEGEL, der zuvor nicht angehört worden war.
Durch den Erlass der einstweiligen Verfügung ohne vorherige Anhörung des SPIEGEL war laut BVerfG keine Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung gegenüber dem Verfahrensgegner gewährleistet. Der Verfügungsantrag, dem der Pressesenat stattgab, entsprach nicht mehr der außerprozessualen Abmahnung. Er war wesentlich verändert worden. Zudem waren mehrere gerichtliche Hinweise an die Antragstellerin ergangen, infolge derer sie ihre Anträge umgestellt, ergänzt und teilweise zurückgenommen hatte. Während die Antragstellerin somit mehrfach und flexibel nachsteuern konnte, um ein für sie positives Ergebnis des Verfahrens zu erreichen, hatte der SPIEGEL laut BVerfG keinerlei Möglichkeit, auf die veränderte Sach- und Streitlage zu reagieren. Der Verlag wusste bis zur Zustellung der einstweiligen Verfügung nicht, dass überhaupt ein Verfahren gegen ihn geführt wurde. Dies alles verletzt die prozessuale Waffengleichheit.
Das Bundesverfassungsgericht folgt in seiner Entscheidung der Begründung der Verfassungsbeschwerde und betont mit deutlichen Worten die hohe Bedeutung des Grundsatzes der prozessualen Waffengleichheit. Zum Schutz dieses Grundrechts hatte das Gericht in vorherigen Entscheidungen bereits klare Spielregeln speziell für presserechtliche Verfügungsverfahren entwickelt. Aufgrund des wiederholten Verstoßes gegen diese Vorgaben wurde das OLG Hamburg nunmehr sogar erstmals ausdrücklich auf die rechtliche Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen. Mit dieser klaren Positionierung haben die Karlsruher Richter die Verfahrensgrundrechte nicht nur des SPIEGEL, sondern aller Verlage und Medienhäuser und somit letztlich die Pressefreiheit gestärkt.
ADVANT Beiten-Partner Marc-Oliver Srocke vertritt die SPIEGEL-Gruppe regelmäßig in gerichtlichen Auseinandersetzungen und konnte dabei bereits zahlreiche Grundsatzentscheidungen zugunsten seiner Mandantin erwirken.
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