LAG Berlin-Brandenburg vom 22. Februar 2023 – 4 TaBVGa 1301/22
Unterhält der Arbeitgeber seinen Hauptbetrieb im Ausland und nur einen Betriebsteil im Inland, können die Arbeitnehmer des deutschen Betriebsteils einen Betriebsrat wählen. Eine solche Wahl ist jedenfalls nicht von vornherein nichtig.
Ein Luftfahrtunternehmen hatte nicht nur seinen Sitz im Ausland, sondern unterhielt außerhalb der Bundesrepublik auch seine Personalabteilung und den kompletten Leitungsapparat. Um den Flugbetrieb nach und aus Deutschland heraus zu gewährleisten, bildete das Unternehmen an einzelnen Flughäfen in Deutschland sogenannte Basen. Dort beschäftigte man unter anderem Base Captains, Base Supervisor und Base Deputies. Jene Arbeitnehmer waren u.a. für die Durchführung des Flugbetriebs in Deutschland verantwortlich, in Beförderungen eingebunden und bewerteten Crewmitglieder und Kabinenpersonal. Die Arbeitnehmer des Luftfahrtunternehmens nutzten an den einzelnen Flughäfen in Deutschland zudem kleinere Räumlichkeiten, um administrativen Aufgaben nachzugehen.
Die Gewerkschaft leitete eine Betriebsratswahl für eine einzelne Basis in Deutschland ein und wollte hierzu einen Wahlvorstand wählen lassen. Aus Sicht des Arbeitgebers wäre eine solche Wahl nichtig gewesen, weil die an den deutschen Flughäfen vorhandenen Strukturen keinen qualifizierten Betriebsteil darstellen, in dem ein eigener Betriebsrat gewählt werden dürfte. Gegen den Aufruf der Gewerkschaft ging das Unternehmen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vor und beantragte die Untersagung der weiteren Wahl.
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg lehnte die vom Arbeitgeber beantragte Untersagung ab. Die von der Gewerkschaft initiierte Betriebsratswahl am Flughafen in Deutschland wird damit fortgesetzt.
Das Gericht sah in einem ersten Schritt die vom Arbeitgeber unterhaltene Basis am deutschen Flughafen wegen vorhandener – wenn auch eher geringer – Leitungsbefugnisse dortiger Arbeitnehmer als qualifizierten Betriebsteil im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) an. Darüber hinaus hatten sich die Richterinnen und Richter am LAG insbesondere mit der umstrittenen Rechtsfrage zu beschäftigen, ob in einem in Deutschland gelegenen Betriebsteil überhaupt ein eigener Betriebsrat gewählt werden darf, wenn der Hauptbetrieb nicht in Deutschland, sondern im Ausland liegt. Die Betriebsratsfähigkeit eines Betriebsteils in Deutschland bei Existenz des Hauptbetriebs außerhalb der Bundesrepublik hielt das LAG zumindest für vertretbar. Ein ausländisches Unternehmen mit Arbeitsstätten in Deutschland solle sich nicht der Anwendung des BetrVG entziehen können. Auch sollten die Arbeitnehmer in solchen Arbeitsstätten nicht generell von der betrieblichen Mitbestimmung ausgeschlossen werden. Diese Erwägungen genügten dem Gericht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, um eine Entscheidung im Sinne der Gewerkschaft zu treffen.
Im Betriebsverfassungsrecht gilt das „Territorialitätsprinzip“. Demnach werden Betriebsräte nur in Betrieben, die sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik befinden, gewählt. Auch erstreckt sich die Mitbestimmung von deutschen Betriebsräten grundsätzlich nur auf jene Arbeitnehmer, die im Inlandsbetrieb tätig sind.
Diese Aussagen gelten zwar weiterhin. Jedoch muss das Territorialitätsprinzip in Zeiten, in denen grenzüberschreitende Arbeitnehmereinsätze für Unternehmen zunehmend zum Normalfall werden, eher als Ausgangspunkt und weniger als unumstößlicher Grundsatz angesehen werden. Der jetzt vom LAG Berlin-Brandenburg entschiedene Fall bewirkt eine weitere Öffnung der Betriebsverfassung in diese Richtung.
Hervorzuheben ist, dass die Entscheidung des LAG als Zwischenergebnis betrachtet werden muss. Die Entscheidung erging zu einer laufenden Betriebsratswahl im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Aufgrund der gebotenen Eile prüfte das LAG die rechtliche Grundsatzfrage nicht vertieft. Diese abschließende Prüfung ist dem sogenannten Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Für international aufgestellte Unternehmen, die in Deutschland organisatorisch selbständige Betriebe oder Betriebsteile unterhalten, ändert sich durch die Entscheidung nichts. Wenn die örtliche Leitungsmacht im Betrieb oder Betriebsteil hinreichend vorhanden ist, insbesondere die wesentlichen Entscheidungen in personellen und sozialen Angelegenheiten vor Ort getroffen werden, kann in diesen Betrieben bzw. Betriebsteilen – wie bisher – ein Betriebsrat gewählt werden.
Die Entscheidung des LAG setzt die Tendenz in der Rechtsprechung (siehe LAG Hessen, Urteil vom 13. April 2011 - 8 Sa 922/10) fort, dass eine Flucht aus der deutschen Betriebsverfassung durch ausländische Hauptbetriebe erschwert werden soll. An die Organisation der inländischen und für eine Betriebsratswahl in Betracht kommende Betriebsstätte werden geringe Anforderungen gestellt. Jene Unternehmen müssen daher verstärkt damit rechnen, dass in den deutschen Organisationseinheiten Betriebsratswahlen durchgeführt werden.