Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein vom 27. September 2022 - 1 Sa 39 öD/22
„Arbeitnehmer sind in ihrer Freizeit nicht verpflichtet, Mitteilungen der Arbeitgeberin (z.B. E-Mails oder SMS) entgegenzunehmen und zu lesen und sich über etwaige Änderungen ihres Dienstplans zu erkundigen.“
Der Arbeitnehmer war mit Beteiligung des Betriebsrats für den 08.04.2021 zu einem „unkonkreten Springerdienst“ eingeteilt. Hierzu war vorgesehen, am Einsatztag um 07:30 Uhr von zuhause aus telefonisch seine Einsatzfähigkeit mitzuteilen. Am 07.04.2021 um 13:20 Uhr änderte die Arbeitgeberin den Dienstplan und versuchte, den Arbeitnehmer, der zuletzt am 06.04.2021 gearbeitet hatte und dessen nächster Arbeitstag der 08.04.2021 war, hierüber während dessen freier Zeit zu informieren. Arbeitsbeginn sollte für den Arbeitnehmer am 08.04.2021 nun bereits um 06:00 Uhr sein. Die telefonische Kontaktaufnahme blieb ohne Erfolg, weshalb die Arbeitgeberin dem Arbeitnehmer um 13:27 Uhr eine SMS sendete.
Entsprechend der ursprünglichen Dienstplanung zeigte der Arbeitnehmer der Arbeitgeberin am 08.04.2021 um 07:30 Uhr telefonisch seine Bereitschaft zur Arbeitsleistung an. Die Arbeitgeberin setzte den Arbeitnehmer nicht mehr ein, erteilte ihm eine Ermahnung, bewertete den Tag als unentschuldigtes Fehlen und zog dem Arbeitnehmer elf Stunden von seinem Arbeitszeitkonto ab.
Am 14.09.2021 hatte der Arbeitnehmer frei. Um 09:15 Uhr an diesem Tag konkretisierte die Arbeitgeberin den Dienst des Arbeitnehmers für den 15.09.2021, für den er bislang als „Springer kurzfristig“ für den „Tagdienst“ eingeteilt war, auf eine um 06.30 Uhr aufzunehmende Tätigkeit. Da der Arbeitnehmer am 14.09.2021 ebenfalls telefonisch nicht zu erreichen war, schickte ihm die Arbeitgeberin wiederum eine SMS mit der Dienstplanung sowie eine E-Mail. Der Arbeitnehmer nahm seine Tätigkeit am 15.09.2021 nicht um 06:30 Uhr auf, sondern zeigte wiederum erst um 07:30 Uhr telefonisch seine Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme an. Seine Arbeit nahm der Arbeitnehmer nach Aufforderung dann tatsächlich um 08:26 Uhr auf. Die Zeit zwischen 06:30 Uhr und 08:26 Uhr wertete die Arbeitgeberin wiederum als unentschuldigtes Fehlen, erteilte dem Arbeitnehmer eine Abmahnung und zog ihm die Zeit von seinem Arbeitszeitkonto ab.
Der Arbeitnehmer wehrt sich gegen den Abzug seiner Stunden von seinem Arbeitszeitkonto und gegen die erteilte Abmahnung.
Mit Erfolg. Nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein befand sich die Arbeitgeberin am 08.04.2021 im Annahmeverzug. Der Arbeitnehmer habe seine Arbeitsleistung am 08.04.2021 telefonisch zur rechten Zeit am rechten Ort in rechter Weise angeboten. Er war eingeteilt als Springer. Die Einteilung sei nicht durch eine Dienstplanänderung gegenüber dem Arbeitnehmer konkretisiert worden. Hierfür sei eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung erforderlich, die dem Arbeitnehmer zugeht. Letzteres sei nicht geschehen.
Der Arbeitnehmer habe den Telefonanruf der Arbeitgeberin nicht angenommen. Die Entgegennahme eines Anrufs der Arbeitgeberin oder einer mündlichen Weisung während der Freizeit sei möglicherweise als Verstoß gegen das Recht des Arbeitnehmers „auf Unerreichbarkeit“ zu werten. Dennoch gehe die Weisung zu. Es bleibe aber offen, ob der Arbeitnehmer einer Weisung, die ihm in seiner Freizeit zugeht, nachzukommen brauche. Denn vorliegend fehle es am Zugang der Weisung auf telefonischem Weg.
Die SMS sei zwar am 07.04.2021 auf dem Telefon des Arbeitnehmers eingegangen. Mit der Kenntnisnahme sei aber erst am Morgen des 08.04.2021 zu rechnen gewesen. Der Arbeitnehmer sei nicht verpflichtet gewesen, während seiner Freizeit eine dienstliche Nachricht aufzurufen und zu lesen, um sich über seine Arbeitszeit zu informieren, und damit zugleich seine Freizeit zu unterbrechen. Das Lesen einer SMS durch den Arbeitnehmer, mit der die Arbeitgeberin im Hinblick auf Zeit und Ort der Arbeitsausübung ihr Direktionsrecht konkretisiere, sei als Arbeitszeit zu qualifizieren. Es handele sich hierbei ausschließlich um die Befriedigung eines fremden Bedürfnisses. Hieran ändere auch ein etwaiger minimaler Aufwand beim Abrufen und Lesen einer SMS nichts.
Der frühere Zugang der SMS bereits am 07.04.2021 sei vom Arbeitnehmer auch nicht treuwidrig vereitelt worden. Es sei nicht treuwidrig, wenn der Arbeitnehmer darauf besteht, in seiner Freizeit keiner dienstlichen Tätigkeit nachzugehen. Er müsse sich in seiner Freizeit auch nicht nach den Dienstzeiten erkundigen.
Für den 15.09.2021 stehe dem Arbeitnehmer ein Schadensersatzanspruch zu. Die Arbeitgeberin habe den Arbeitnehmer entgegen der betrieblichen Regelung nicht so rechtzeitig über den Beginn seiner Dienstzeit informiert, dass dieser den Arbeitsort pünktlich aufsuchen konnte, um seine Arbeitsleistung aufzunehmen und damit „sein Geld zu verdienen“. Der Arbeitgeberin sei auch bekannt gewesen, dass der Arbeitnehmer während seiner Freizeit keine Informationen über eine Dienstplangestaltung entgegennehmen wolle.
Die Abmahnung sei zu entfernen, weil sie eine unzutreffende rechtliche Bewertung des Arbeitnehmerverhaltens enthalte. Der Arbeitnehmer sei nicht verpflichtet, auch in der Freizeit von sich aus den Dienstplan einzusehen und zu prüfen, wann und wo er für den eingeteilten Dienst am Folgetag zu erscheinen habe.
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein ist nicht rechtskräftig. Unter dem Aktenzeichen 5 AZR 349/22 ist ein Revisionsverfahren beim Bundesarbeitsgericht anhängig. Es bleibt abzuwarten, ob der für die Entgeltansprüche zuständige Fünfte Senat die nach Ansicht des Verfassers diskussionswürdigen und nicht gänzlich überzeugenden Ausführungen des Landesarbeitsgerichts teilt.
Bei der Dienstplangestaltung und etwaigen Änderungen sollte darauf geachtet werden, dass auch kurzfristige Änderungen den betreffenden Arbeitnehmern möglichst frühzeitig mitgeteilt werden und der Zugang dieser Mitteilung sichergestellt wird. Bei den Änderungen ist auch die Beteiligung des Betriebsrats entsprechend den gesetzlichen Vorgaben und den betrieblichen Regelungen zu berücksichtigen.