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Kartellschadensersatzklagen – Neue EU-Richtlinie soll Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen in Europa vereinheitlichen

Nach langjährigen Debatten über ein einheitliches EU-Schadensersatzregime im Kartellrecht hat der Rat der Europäischen Union am 26. November 2014 die Richtlinie über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union ("Schadensersatzrichtline") angenommen. Der deutsche Gesetzgeber hat nun zwei Jahre Zeit, um die Vorgaben der EU in nationales Recht umzusetzen.

Im Zentrum der Richtlinie steht die Stärkung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung im Wege sog. Follow-on-Schadensersatzklagen, d.h. Schadensersatzklagen im Anschluss an die Feststellung von Kartellrechtsverstößen durch die EU-Kommission bzw. nationale Kartellbehörden. Ziel ist es, dass private und öffentliche Kartellrechtsdurchsetzung bei der Prävention und Kompensation von Kartellrechtsschäden künftig komplementär zusammenwirken. Beide Bereiche der Kartellrechtsdurchsetzung können jedoch, z.B. bei der Akteneinsicht in Unterlagen von Behörden, auch Spannungsfelder erzeugen. Zweites Ziel der Richtlinie ist es daher, die öffentliche Kartellrechtsdurchsetzung vor übermäßigen Beeinträchtigungen durch Follow-on-Schadensersatzverfahren zu bewahren.

Traditionell liegt der deutsche Schwerpunkt privater Kartellrechtsdurchsetzung auf Klagen gegen marktmissbräuchliches Verhalten (auf Unterlassung diskriminierenden Verhaltens, Weiterbelieferung etc.) oder über die Wirksamkeit von Vertragsabreden im Graubereich des Kartellrechts. Die jüngste Meldung der Deutschen Bahn über Schadensersatzklagen in Köln und New York wegen des Luftfrachtkartells in Höhe von EUR 2,1 Mrd. verdeutlicht jedoch, welchen Stellenwert Follow-on-Klagen in der deutschen Wettbewerbskultur bereits heute einnehmen.

Dieses Thema betrifft nicht nur große Konzerne, sondern zunehmend auch den Mittelstand und die öffentliche Hand. Die wichtigsten Veränderungen der neuen EU-Richtlinie gegenüber der bisherigen Rechtslage in Deutschland haben wir daher im nachfolgenden Überblick zusammengestellt:

Beweismittel (Artikel 5-8)

  • Follow-on-Kläger sind aufgrund von Informationsasymmetrien regelmäßig mit Beweisschwierigkeiten konfrontiert: Beweismittel zur Zuwiderhandlung, Schadenshöhe und Schadensverursachung befinden sich häufig in den Händen der Schädiger bzw. der ermittelnden Kartellbehörden. Andererseits gebietet ein wirksames Anreizsystem von Kronzeugenprogrammen (Stärkung der öffentlichen Kartellrechtsdurchsetzung) bzw. Settlement-Verfahren (Beschleunigung öffentlicher Kartellverfahren), dass freiwillig gemachte Angaben der Kartellanten in Follow-on-Klagen nicht gegen sie verwendet werden.
  • Die Schadensersatzrichtlinie sieht vor, dass Gerichte – auf substantiierten Antrag des Klägers (bzw. des Beklagten bei Einwendungen) und nach Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung – die Offenlegung sowohl von konkreten Beweismitteln als auch von "relevanten Kategorien von Beweismitteln" anordnen können. Letzteres ist eine Neuerung des deutschen Verfahrensrechts und wird Klägern die Beweismittelbeschaffung erleichtern.
  • Andererseits wird es Gerichten untersagt sein, die Offenlegung – durch Parteien oder Dritte, z.B. die Kartellbehörde – von Kronzeugenerklärungen bzw. Settlement-Vergleichsausführungen anzuordnen. Sie dürfen sich auf Antrag lediglich davon überzeugen, dass es sich tatsächlich um die geschützten Beweismittel handelt. Für den Fall, dass die genannten Unterlagen durch Akteneinsicht doch in die Hände einer Partei gefallen sind, wird ein absolutes Beweisverwertungsverbot gelten.
  • Offenlegung und Verwertung bestimmter anderer Beweismittel aus den Akten der Kartellbehörde – (1) alle von natürlichen bzw. juristischen Personen für das Kartellverfahren erstellten Informationen, (2) alle von der Kartellbehörde den Parteien übermittelten Informationen (z.B. die Mitteilung der Beschwerdepunkte) sowie (3) zurückgezogene Settlement-Vergleichsausführungen – werden auf den Zeitpunkt nach Abschluss des kartellbehördlichen Verfahrens beschränkt sein. Sofern Beweismittel aus den Akten einer Kartellbehörde stammen, werden Gerichte schließlich verpflichtet, eine strengere Offenlegungs-Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen. Eine Offenlegung durch die Kartellbehörde selbst soll ultima ratio bleiben.



Ansprüche mittelbarer Abnehmer und Abwälzungseinwand (Artikel 12-15)

  • Mittelbare Abnehmer kartellierter Waren bzw. Dienstleistungen sind mit besonderen Beweisschwierigkeiten konfrontiert. Je weiter sie von der Marktstufe des Kartells entfernt sind, desto schwerer wird ihnen der Nachweis spezifisch kartellbedingter Schäden gelingen. Andererseits darf eine vollständige Schadensersatzpflicht nicht zu einem System der Überkompensation führen. In der Schadensersatzrichtlinie hat man sich nun für ein Kompensationssystem entschieden, das allen Abnehmerstufen, nicht nur den direkten Abnehmern, Klageanreize geben soll: die vorgelagerten Abnehmer können auf Schadensersatz wegen Preiserhöhung und Absatzrückgangs klagen, müssen sich jedoch eine Abwälzung der Preiserhöhung auf ihre nachgelagerten Abnehmer entgegenhalten lassen. Für kartellgeschädigte Endverbraucher bleibt der Ersatz der kartellbedingten Preiserhöhung.
  • Der Zugang zu Beweisen wird auch mittelbaren Abnehmern durch die neuen Regeln zur Offenlegung von Beweismitteln durch Dritte – z.B. kartellgeschädigte Abnehmer vorgelagerter Stufen oder die Kartellbehörde – erleichtert.
  • Nach einer neuen Beweisregel der Schadensersatzrichtlinie erbringen mittelbare Abnehmer zudem den (Anscheins-)Beweis für die Abwälzung (das "Ob") einer kartellbedingten Preiserhöhung auf sie bereits dadurch, dass sie nachweisen, dass (1) der Beklagte einen Kartellverstoß beging, (2) dieser Kartellverstoß einen Preisaufschlag für den unmittelbaren Abnehmer bewirkte und (3) der klagende mittelbare Abnehmer Waren bzw. Dienstleistungen erworben hat, die Gegenstand des Kartellverstoßes waren.
  • Andererseits müssen sich Follow-on-Kläger auf allen Abnehmerstufen (mit Ausnahme der Endverbraucherstufe) die kartellbedingte Abwälzung der Preiserhöhung als Einwendung entgegen halten lassen, für die auch der Beklagte Offenlegung vom Kläger oder Dritten verlangen kann. Im Unterschied zur ORWI-Rechtsprechung des BGH muss der Beklagte i.R.d. Abwälzungseinwendung jedoch nicht beweisen, dass die Abwälzung nicht zu einem Absatzrückgang (sog. Mengeneffekt) geführt hat. Mit anderen Worten: der Follow-on-Kläger trägt die volle Beweislast bezüglich Schäden aufgrund kartellbedingter Preiserhöhungen und dadurch bedingter Absatzrückgänge. Den Beklagten trifft allein die Beweislast bezüglich der Abwälzung der Preiserhöhung auf nachgelagerte Abnehmer des Klägers. Letztere können ihrerseits Follow-on-Klagen erheben.
  • Zur Vermeidung von Mehrfachinanspruchnahmen sollen Zivilgerichte bei der Beurteilung von abgewälzten Preiserhöhungen schließlich auch Follow-on-Klagen anderer Abnehmerstufen wegen desselben Kartellverstoßes sowie Gerichtsurteile hierüber "gebührend berücksichtigen" können – dies ist dem der subjektiven Rechtskrafterstreckung verhafteten deutschen Verfahrensrecht vollkommen fremd.



Verjährung (Artikel 10)

  • Auch Verjährungen können der erfolgreichen Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen entgegenstehen, zumal geschädigten Abnehmer eine rechtliche Bewertung vor den abschließenden Feststellungen einer Kartellbehörde große Schwierigkeiten bereiten wird.
  • Anders als nach bisheriger Rechtslage wird die Verjährung von Follow-on-Ansprüchen gemäß der Schadensersatzrichtlinie erst nach Beendigung des Kartellverstoßes sowie Kenntnis bzw. Kennenmüssen in Bezug auf (1) das Verhalten des Kartellanten und die rechtliche Qualifizierung, dass es sich dabei um einen Kartellverstoß handelt, (2) den kartellbedingten Schaden und (3) die Identität des Kartellanten beginnen. Das Erfordernis einer rechtlichen Qualifizierung hat zur Folge, dass die Verjährung regelmäßig erst mit Abschluss des Bußgeldverfahrens zu laufen beginnen wird.
  • Die Schadensersatzrichtlinie sieht eine längere Verjährungsdauer von 5 Jahren vor – im Vergleich zu 3 Jahren nach geltendem deutschen Recht. Eine kenntnisunabhängige Verjährung innerhalb von 10 Jahren (vgl. § 199 Abs. 3 Nr. 1 BGB) wird voraussichtlich ebenfalls ausgeschlossen sein.
  • Schließlich bestimmt die Schadensersatzrichtlinie, dass eine Verjährungshemmung frühestens ein Jahr – und nicht bereits sechs Monate – nach Bestandskraft der kartellbehördlichen Entscheidung endet.



Gesamtschuldnerische Haftung und Gesamtschuldnerausgleich (Artikel 11)

  • Grundsätzlich gilt, dass sich Follow-on-Klagen gegen alle Kartellbeteiligten richten können, weil diese nicht nur ihren eigenen unmittelbaren bzw. mittelbaren Abnehmern gegenüber, sondern als Gesamtschuldner allen Geschädigten für den gesamten durch das Kartell verursachten Schaden haften. Jüngst hat der EuGH in der Rechtssache Kone sogar die zivilrechtliche Haftung für Schäden aufgrund sog. Preisschirmeffekte anerkannt.
  • Neu ist die Ausnahme, dass Kronzeugen gesamtschuldnerisch nur gegenüber ihren eigenen unmittelbaren und mittelbaren Abnehmern haften. Gegenüber den Abnehmern anderer Kartellanten haften sie lediglich nachrangig, sofern bei den Mitkartellanten kein voller Schadensersatz möglich war. Um diese Privilegierung des Kronzeugen nicht zu entwerten, ist sein Ausgleichsbetrag im Rahmen des sog. Gesamtschuldner-Innenausgleichs – d.h. wenn ein anderer Kartellant einen über seinen Schadensbeitrag hinausgehenden Schadensersatz gezahlt hat und Ausgleich beanspruchen kann – auf den Schaden der eigenen unmittelbaren und mittelbaren Abnehmer des Kronzeugen begrenzt. Diese Begrenzung gilt allerdings nicht bei der Haftung für Preisschirmeffekte.
  • Neu ist schließlich die Ausnahme, dass kleine und mittelständische Unternehmen (d.h. mit weniger als 250 Beschäftigten und entweder einem Jahresumsatz von höchstens EUR 50 Mio. oder einer Jahresbilanzsumme von höchstens EUR 43 Mio.) nur gegenüber den eigenen unmittelbaren und mittelbaren Abnehmern haften, sofern (1) ihr Marktanteil während des Kartellverstoßes unter 5 % betrug und sie (2) die volle gesamtschuldnerische Haftung in ihrer wirtschaftlichen Lebensfähigkeit gefährden würde; es sei denn, (1) das Unternehmen nahm eine herausgehobene Rolle im Kartell ein oder (2) ist Wiederholungstäter.



Fazit: viele Vorgaben der Schadensersatzrichtlinie entsprechen bereits heute geltendem deutschen Recht. Die Umsetzung aller neuen Vorgaben innerhalb der nächsten zwei Jahre wird den Gesetzgeber wegen zahlreicher Friktionen mit der deutschen Rechtsdogmatik vor interessante Aufgaben stellen - und Kartelljuristen ausreichenden Gesprächsstoff bieten. Mit dem neuen System "lückenloser" Kartellschadenskompensation wird insgesamt mit einer Zunahme der Follow-on-Klagen mittelbarer Abnehmer zu rechnen sein. Unternehmen aber auch die öffentliche Hand sollten sich daher verstärkt mit den Chancen und Risiken dieser Rechtsentwicklung befassen.

Bei Fragen zu diesem Thema, kontaktieren Sie bitte: philipp.cotta@bblaw.com christian.heinichen@bblaw.com heiner.mecklenburg@bblaw.com

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