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Stellt der EuGH die deutsche Tariflandschaft in Frage?

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 13. Januar 2022 (C-514/20) entschieden, dass Art. 7 Abs. 1 der RL 2003/88/EG im Licht von Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtscharta dahin auszulegen ist, dass es einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegensteht, nach der für die Berechnung, ob die Schwelle der zu einem Mehrarbeitszuschlag berechtigenden Arbeitszeit erreicht ist, die Stunden, die dem vom Arbeitnehmer in Anspruch genommenen bezahlten Jahresurlaub entsprechen, nicht als geleistete Arbeitsstunden berücksichtigt werden. Heißt übersetzt: Jegliche Tarifregelung ist europarechtswidrig und damit unwirksam, die einen Arbeitnehmer daran hindern könnte, seinen Mindestjahresurlaubsanspruch zu nehmen. Ist dies möglich, sind alle betroffenen Regelungen dahingehend auszulegen, dass der Arbeitnehmer die Vergütung auch für Urlaubszeiten erhält.

Die vorliegende Entscheidung ist nach der EuGH-Entscheidung vom 6. November 2018 (C-619/16) nicht weiter überraschend, bereits dort hatte der EuGH angekündigt, dass der Arbeitgeber alles zu unterlassen hat, was den Arbeitnehmer vom Nehmen seines Urlaubs abhalten könnte. Wer sich nun allerdings nach der Lektüre der Entscheidung und der Feststellung, dass hier lediglich ein Tarifvertrag der Zeitarbeitsbranche betroffen war, entspannt zurücklehnt, der sei gewarnt: Die Entscheidung des EuGH kann alle Tarifverträge aller Branchen betreffen, die:

  • bzgl. der Vergütung oder anderen Vorteilen an gearbeitete bzw. geleistete Stunden anknüpfen
  • eine bestimmte (Mehr-) arbeitsstundenzahl pro Woche/Monat/Jahr vorsehen
  • Zuschläge und Zulagen, die an die tatsächliche Arbeitsleistung anknüpfen (Nacht-, Erschwernis, Schmutzzulagen, Wechselschichtzulagen) und an bestimmte Schwellenwerte anknüpfen.

Auch außerhalb tariflicher Regeln könnten mit der Argumentation des EuGH auf einen Schlag Bonusregelungen und variable Vergütungsregelungen betroffen sein, die von Umsatzzielen und Grenzwerten abhängen (das dürfte ein erheblicher Teil der Bonusvereinbarungen sein). In der Folge stünden dann auch Mitarbeitern die Zahlungen zu, die die Schwellenwerte oder Umsatzziele nicht erreicht haben, dies aber ohne die Inanspruchnahme von Jahresurlaub getan hätten. Hier heißt es für Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände aufwachen und Maßnahmen ergreifen, bevor durch die Auslegung des EuGH erhebliche Mehrkosten auflaufen.

Anne Dziuba