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Stärkung der Rechte von (schwer-)behinderten Arbeitnehmern während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses

Europäischer Gerichtshof vom 10. Februar 2022 – C-485/20

Die meisten Arbeitnehmer fühlen sich während der ersten sechs Monate eines neuen Arbeitsverhältnisses noch nicht wirklich sicher – zu Recht: Sowohl der strenge allgemeine Kündigungsschutz, der für alle Arbeitnehmer gleichermaßen gilt, als auch der noch strengere, besondere Kündigungsschutz, der für besonders schützenswerte Gruppe wie schwerbehinderte Personen gilt, beginnt in der Regel erst nach sechs Monaten ununterbrochenen Bestehens des Arbeitsverhältnisses. Meistens ist zudem noch eine Probezeit vereinbart, während der die Kündigungsfrist stark verkürzt ist.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einer Entscheidung diese Unsicherheit während der ersten sechs Monate zumindest für (schwer-)behinderte Arbeitnehmer wohl deutlich reduziert: So hat das Gericht entschieden, dass die Kündigung von (schwer-)behinderten Personen schon während der Probezeit nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist.

Sachverhalt

Der klagende Arbeitnehmer war als Facharbeiter für Wartung und Instandhaltung der Schienenwege bei einer belgischen Eisenbahngesellschaft angestellt und befand sich noch in der Probezeit. Aufgrund eines Herzfehlers wurde ihm ein Herzschrittmacher implantiert. Da dieser sensibel auf elektromagnetische Felder reagiert, war eine Beschäftigung in der Nähe der Gleisanlagen nicht mehr möglich. Zudem wurde ihm eine Behinderung zuerkannt. Der Arbeitnehmer wurde daher zunächst drei Monate als Lagerist beschäftigt und schließlich entlassen mit der Begründung, er könne die Aufgaben, für die er eingestellt worden sei, nicht mehr erfüllen. Für Bedienstete sei während der Probezeit – anders als bei endgültig eingestellten Bediensteten - keine Versetzung an einen anderen Arbeitsplatz vorgesehen.

Die Entscheidung

Der EuGH hatte zu entscheiden, ob diese Vorgehensweise mit den Vorgaben der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG vereinbar ist. Diese Richtlinie setzt fest, dass „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“ getroffen werden müssen. Er urteilte, dass auch Arbeitnehmer in der Probezeit von der Richtlinie erfasst würden und als „angemessene Vorkehrung“ einem behinderten Arbeitnehmer zunächst statt einer Kündigung ein anderer Arbeitsplatz zuzuweisen sei, sofern der Arbeitgeber dadurch nicht unverhältnismäßig belastet werde. Für die Beurteilung, wann eine solche unverhältnismäßige Belastung vorliege, seien insbesondere der finanzielle Aufwand, die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz des Unternehmens, öffentliche Mittel oder andere Unterstützungsmöglichkeiten entscheidend. Auch müsse es eine freie, für den Arbeitnehmer aufgrund seiner Kompetenz und die Fähigkeiten geeignete Stelle geben. Dies sei jedoch vorab zu prüfen.

Konsequenzen für die Praxis

Diese Entscheidung wird wohl auch Auswirkungen auf das deutsche Rechtssystem haben: Für einen in Deutschland beschäftigten schwerbehinderten Arbeitnehmer gilt ein besonderer Kündigungsschutz erst nach sechs Monaten ununterbrochener Betriebszugehörigkeit. Der deutsche Gesetzgeber wollte hierdurch Einstellungshemmnisse bei der Beschäftigung von schwerbehinderten Arbeitnehmern abbauen, da ein sofortiger erhöhter Kündigungsschutz eines schwerbehinderten Arbeitnehmers möglicherweise abschreckend für manche Arbeitgeber wirkt und somit die Chancen von schwerbehinderten Bewerbern am Arbeitsmarkt senken könnte. Die Entscheidung könnte diese bewusste gesetzgeberische Entscheidung und ihre gewünschte Wirkung konterkarieren. Arbeitgeber auch in Deutschland müssen nun wohl auch während der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses einen zumindest abgeschwächten Kündigungsschutz beachten, indem sie vor der Entlassung eines (schwer-)behinderten Arbeitnehmers die Vorgaben des EuGH zu einer möglichen Versetzung prüfen sollten. Die Bereitschaft, (schwer-)behinderte Personen einzustellen, könnte dadurch sinken.

Praxistipp

Es bleibt abzuwarten, inwieweit dieses Urteil durch die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit und den deutschen Gesetzgeber aufgegriffen wird. Es ist jedoch in jedem Fall damit zu rechnen, dass (schwer-)behinderte Arbeitnehmer demnächst mit dieser Entscheidung argumentieren werden. Arbeitgebern ist daher zu raten, bereits im Vorfeld einer Kündigung eines (schwer-)behinderten Arbeitnehmers die Vorgaben des EuGH im Blick zu behalten und diese entsprechend zu berücksichtigen.

Regina Holzer

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Kündigungssschutz Schwerbehinderung Probezeitkündigung

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